JahresrückblickeMeilensteine

Flashback 2022

~ Unser geliebter kleiner Jahresrückblick ~


Nun sind es nur noch wenige Tage und auch das Jahr 2022 kann endgültig einpacken. Ein Jahr, das uns nicht nur musikalisch auf Trab gehalten hat. Denn selten sind in zwölf Monaten so viele Scheiben erschienen wie im Jahre 2022.

Auch wenn manch einer vielleicht nur noch von Playlisten redet, wir hören immer noch Alben, von vorne bis hinten. Daher haben wir auch 2022 wieder sehr viele dieser langen Alben gehört und uns durch alle Hochs und Tiefs gekämpft.

Jetzt ist es aber an der Zeit, ein Resümee zu ziehen. Darum haben in diesen Tagen alle teilnehmenden Redakteure ihren Gehirnschmalz nochmal besonders angestrengt, sind in aller Ruhe in sich gegangen und haben für Euch ihre schönsten Scheiben des Jahres auserwählt.

Im zweiten Teil unseres Flashbacks finden sich die vollständigen Listen der jeweiligen Top 30 Scheiben, während wir hier mit der Vorstellung der jeweiligen fünf Schönheiten des Jahres beginnen. Und so reiht sich Schönheit an Schönheit, denn hier kommen die Schönheitspreise.

 

 

 

Michael Haifls

Schönheitspreise

 

 

In dieser Drehscheibe kann sich der Hörer verlieren. Er kann sich in ´Eine andere Zeit´ hineinträumen, in eine bessere Zeit, in die Vergangenheit, in die Kindheit und Jugend, scheinbar, aber auch in metaphorisierte Geschichten aus Politik und Musikwissenschaft. TOM LIWA ist der Geschichtenerzähler der Gegenwart, der lange und kurze Vorträge beherrscht. Obwohl er nicht die FLOWERPORNOES im Schlepptau hat und seine instrumentalen Mitgefährten einfach MARION VAN DER BEEKS SEVEN SISTERS nennt, TOM LIWA greift nach den Sternen und tritt bereits in der Elbphilharmonie auf. Er trägt jeden Hörer mit Gesang und Ton in den Himmel, über die Wolken, nicht erst wenn er ´Kekse für die Königin des Himmels´ proklamiert: „Kekse! Kekse für die Königin des Himmels!!“ Bessere Kekse werden einstweilen kaum zu finden sein.

In dieser Drehscheibe kann sich der Hörer verlieren. Er kann eine völlig neue Welt betreten, sofern er nicht mit Canterbury-Klängen der Siebzigerjahre vertraut ist oder die Gruppe GENTLE GIANT kennt. Mastermind Dan Bornemark, ein enger Vertrauter der britischen Progressive Rock-Legende, ist in dieser Musikwelt heimisch. Daher hat der Schwede über siebzehn Jahre an dem Meisterwerk ´Green Asphalt´ gefeilt, die Gesangsarrangements mit Stimmführung und Gegenstimmen zur Perfektion ausgereizt und neben seinem eigenen Gesang die Engelsstimmen von Helena Josefsson sowie seinen beiden Töchtern, Hjördis und Signe Bornemark, mit ins Spiel von GREEN ASPHALT gebracht. Bessere Gesangsdarbietungen zwischen Barock, Folk und Prog werden einstweilen nicht zu finden sein.

In dieser Drehscheibe kann sich der Hörer neuerlich verlieren. Denn er oder sie kann nicht nur den weit berühmteren Freitagabend genießen, sondern mittlerweile auch noch den sich anschließenden Samstagabend. Die Welt der Jazz-Gitarren besteht schließlich nicht nur aus Freitagen, wie die Menschheit erst in diesem Jahr erfahren musste, sondern auch aus Samstagen. Al Di Meola hat nämlich den nunmehr ebenfalls berühmten Samstagabend restauriert und der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Jener Samstagabend, dem die berühmte Freitagnacht vorausging: ´Friday Night In San Francisco´ – der überaus erfolgreiche Genre-Klassiker von AL DI MEOLA, JOHN McLAUGHLIN & PACO DE LUCÍA. Jetzt kennt jeder auch die ´Saturday Night In San Francisco´ – ebenso leichtfüßig und perfekt, ebenso legendär und ebenso brillant. Bessere Wochenendunterhaltung wird einstweilen nicht zu finden sein.

In dieser Drehscheibe kann sich der Hörer verirren. Die Welt des Rock und Metal steht offen wie ein brennendes Scheunentor, wobei dahinter eine Welt aus Theater und Oper die schönsten Arien diesseits von Rock und Metal entblößt. Immer wieder und wieder steht auf den Plakaten mit den Aufführungsterminen der Name DEVIL DOLL, doch VITAM AETERNAM sind weit mehr als revitalisierte Imitatoren. VITAM AETERNAM erschaffen eine cineastische Welt, ohne blanke Brüste des modernen Theaters zu beanspruchen. VITAM AETERNAM sind die Bewahrer einer musikalischen Schöpfung und ´Revelations Of The Mother Harlot´ ihr neuestes Meisterwerk. Dämonisch und majestätisch. Bessere Exklusivität und Souveränität wird nicht zu finden sein.

In diese Drehscheibe kann sich der Hörer verlieben. In Natalie Mering ohnehin. Sie singt so schön, schöner als schön. Sie singt wie gewohnt unter ihrem Moniker WEYES BLOOD eine der wichtigsten Scheiben des gesamten Jahres ein. ´And In The Darkness, Hearts Aglow´ entzückt mit Seventies- und Barock-Pop, dem schönsten Pop der Saison – und dieser wundervollen Stimme zu Piano oder Orgel, Gitarre oder Harfe. Bessere Leichtigkeit des Daseins im Verbund mit Wärme und Tiefe wird nicht zu finden sein.

 

 

Marcus Köhlers

Schönheitspreise

 

 

Ich bin bereits seit ihren Anfangstagen ein glühender Verehrer der ursprünglich in Cincinatti, Ohio, beheimateten THE AFGHAN WHIGS, und verfolge die Entwicklung der Band und im Besonderen, die des Masterminds Greg Dulli, seither besonders aufmerksam. Ihre beiden Meisterleistungen ´Congregation´ und ´Gentlemen´ zählen für mich auch heute noch zu den herausragenden Alben der 90er, und auf ihrem mittlerweile neunten Album treiben Hedonismus und Romantik ihren Rock´n´Roll nun endlich auch wieder in himmlische Höhen und rufen die Geister ihrer glorreichen Anfangstage hervor. Hardrock mit psychedelischen Vibes im DEEP PURPLE-/HAWKWIND-Style. Die lysergischen BEATLES kombiniert mit einer Country-Steel-Gitarre. Semi-Blaxploitation. Das Herz – und der Schmerz. Alles ist vorhanden! Aber vor allem: ihr Kernsound, bei dem nun auch endlich wieder THE REPLACEMENTS in hinreißenden Motown-Sounds schwelgen. ´How Do You Burn?´ ist ein Album voller impliziter Ausschweifungen, prall gefüllt mit enzyklopädischer Americana und einer einzigartigen, herzzerreißenden Pop-Finesse. Ein Alterswerk. Ein Meisterwerk!

„Warum zur Hölle muss Dave Grohl jetzt auch noch ein Metal-Album machen?“, fragten sich sicherlich die meisten, mich übrigens inklusive. Aber dem ehemaligen NIRVANA-Drummer und FOO FIGHTERS-Mastermind ist es scheißegal, was andere denken, er macht eben genau das, was er will, und er hatte ganz offensichtlich auch eine richtig tolle Zeit dabei! ´Dream Widow´ beweist jedenfalls mit jedem einzelnen Song Grohls innige Liebe zum Metal: es gibt anachronistischen Old-School-Black Metal  a la VENOM und MIDNIGHT, rasenden und wütenden Grindcore in bester FANTOMAS-Manier, ALICE IN CHAINS-Grunge mit betörenden Gesangsharmonien, stampfenden Doom im SAINT VITUS-Stil und Stadion-Riffing mit den fettesten METALLICA-Äxten, die man sich nur wünschen kann. Und wer will schon die besten SLAYER-Parts verpassen, die die Band selbst nie geschrieben hat? Alles ordentlich verpackt – und für mich die bislang ganz große Überraschung des Jahres!

Neben THE AFGHAN WHIGS ein weiteres beeindruckendes Comeback in diesem Jahr, bei dem die MELVINS seit Langem wieder an ihre besten Zeiten herankommen! ´Bad Moon Rising´ ist zudem das erste vollständige Album für das legendäre Noise Rock-Label „Amphetamine Reptile“ seit 25 Jahren – und es ist ein wahrer Killer, und gemeinsam mit ´(A) Senile Animal´ von 2006 ihr womöglich stärkstes Werk seit den glorreichen 80ern und 90ern! Wabernde und stampfende Epen wie das von EARTH-Mastermind Dylan Carlson begleitete ´Mr. Dog Is Totally Right´ wechseln sich hier mit sludgigen Goth-Hymnen a la ´Never Say You’re Sorry´ ab, aber auch treibender, energiegeladener Noise Rock findet sich mit ´The Receiver And The Empire State´ in seiner High End-Version. Vieles auf ´Bad Moon Rising´ erinnert jedenfalls auch rein qualitativ an ihre herausragende ´Houdini´-/´Stoner Witch´-Phase. Nach der Beinahe-Rückkehr zur alten Form mit ´Working With God´ im letzten Jahr beweisen die MELVINS einmal mehr, dass sie immer noch vitale Musik zu veröffentlichen imstande sind, und es lädt fast schon zu Freudensprüngen ein, sie mit einem so lebendigen, lauten und eingängigen Album wieder in absoluter Höchstform erleben zu dürfen. Play it LOUD!

Ich kannte das Quartett CAVE IN aus Massachusetts bis dato hauptsächlich vom Hörensagen und hatte mich lediglich Mal kurz mit ihrem Klassiker-Album ´Until Your Heart Stops´ von 1999 befasst. Bereits Mitte der 90er als legendäre Post-Hardcore-Band etabliert, haben sie ihren Sound kontinuierlich in Richtung Progressive Rock, Stoner und Mainstream-tauglichen Alternative verwandelt, und auf ihrem neusten Werk treiben CAVE IN ihre Metamorphose nun auf neue Extreme, denn es umfasst nahezu jeden Teil ihrer Geschichte und verwandelt die Band dabei in ein unheimliches, riesiges Biest! Es ist vor allem beeindruckend, wie gut sich CAVE IN von Stimmung zu Stimmung bewegen können, und dank des starken Songwritings und der überragenden Instrumentierung bietet das Album eine wunderbare durchgehende Linie. ´Heavy Pendulum´ fühlt sich zugleich feierlich als auch hart erkämpft an, stark und dennoch sensibel, und es gelingt der Band damit erstmals, ihre gesamte massive Form in nur eine einzige Veröffentlichung zu packen – ein perfekt gestricktes Kraftpaket aus modernem Rock und Metal!

Ein Black Metal Meisterwerk! „Aveilut“ bedeutet im Judentum die Trauerzeit nach dem Tod eines geliebten Menschen, und auf ihrem Debütalbum zeigt das New Yorker Zwei-Mann-Projekt SCARCITY diese Trauer als Erfahrung von wahnsinniger Qual. Der Lärm, das Dröhnen und die dissonanten Strömungen, die durch das Album fließen, und die verdrehte Natur ihres Sounds bieten durchaus auch Anreize für Liebhaber von ORANSSI PAZUZU, allerdings fehlen deren unorthodoxen Grooves. Stattdessen bilden die Gitarren eher Texturen als klare Riffs oder Muster, wobei das Endergebnis in seiner ängstlichen Natur gleichwertig ist. Ein nebulöser Abgrund an Kakophonie und Kuriosität – und ein Wirbelwind verängstigender Geräusche. ´Aveilut´ ist zweifellos kein Album, mit dem man sich leicht beschäftigen kann, und viele werden seine strukturelle Lockerheit und seinen „Black Ambient“-Stil als etwas undurchdringlich empfinden. Es vermittelt jedoch ein atemberaubendes Gefühl von Endgültigkeit und Transzendenz, und SCARCITY nähern sich dabei dem herkömmlichen Black Metal aus der Perspektive eines Außenstehenden, nein, beinahe schon wie Außerirdische!

 

 

Jürgen Tschamlers

Schönheitspreise

 

 

Auch wenn für RAZOR die Zeit mit ihrem neuen Album stehen geblieben ist, hat es doch mehr Reiz, Klasse und Charme als der Großteil der Thrash Metal-Releases des Jahres 2022. Warum? Weil sie sich in jeder Sekunde 110% treu geblieben sind und keinerlei Zugeständnisse an irgendwen gemacht haben. ´Cycle Of Contempt´ ist pur RAZOR. Keine Experimente, keine Neuerungen, sturer RAZOR Pragmatismus im Jahre 2022. Dafür liebe ich dieses Album.

´Atma´, das sechste Album der Aschaffenburger MY SLEEPING KARMA, ist die kompromisslose Fortsetzung des Vorgängers ´Moksha´. Wie schrieb ich im Review zum Album: ´Atma´ bedeutet rockige Riffs, nicht greifbare Melodien und psychedelische Versatzstücke in ein monumentales Gesamtwerk perfekt zusammengefügt!“ Lässt man sich auf die Musik ein, wird man auf eine traumhafte Reise geschickt, deren Wirkung der eines hypnotischen Soundwalls gleicht, der einen auf eine Achterbahn der Gefühle mitnimmt.

Die Band aus Rochester, NY, liefert auf ´Regenerator´ einen Sound, der dem von MY SLEEPING KARMA nicht unähnlich ist. Schwerste Melodien in eine psychedelische Umgebung eingearbeitet, wirken die Stücke wie ein Fluß aus Riffs und Rhythmen in einer Endlos-Loop. KING BUFFALO besitzen Emotionen, die einen mit einer brutalen Wucht treffen. Feingetuned mit spärlichen Synthie-Passagen entwickelt sich der Klangkosmos der Amis zu einem Soundtrack in abgelegene Sphären.

Rock bzw. Hard Rock-Musik muss nicht zwingend immer „Ernst“ sein. Musik ist Entertainment und ´Rock Candy´ von der australischen Ausnahmegitarristin ORIANTHI ist solch ein Album, das schlicht gute Laune mit einer Leichtigkeit liefert, die man bei anderen Musikern vermisst. Das teils modern geprägte, allerdings enorm abwechslungsreiche Album, das sich jedem Kommerz verweigert, aber dennoch leichte Unterhaltung liefert, vermittelt ein absolut positives Feeling, das einen jederzeit aus einem dunkeln Loch holt.

Es gibt Alben, die zünden schon beim ersten Mal. So war das auch bei ´Electric Elite´, das zwar keinerlei Innovation oder Aha-Effekte liefert, aber letztendlich mitreißenden Heavy Metal bietet, der sich geradezu fies im Kleinhirn einnistet. Traditionell, ehrlich, unverwässert und über weite Strecken bekannt, gelingt es RIOT CITY dennoch ein enormes Feuer zu entfachen, das einen Old Schooler in Sekunden abholt. Well done guys.

 

 

U.Violets

Schönheitspreise

 

 

Fünf Alben herausheben? Kaum möglich, da ich zum einen 2022 viel zu viel verpasst habe, und zum anderen extrem viele Platten aller möglichen Genres auf gleicher Augenhöhe herausragten. Da fiel mir jedoch eine im Metal immer noch sehr ungewöhnliche Gemeinsamkeit einiger meiner Top-Alben auf: der Einsatz von Blechbläsern und insbesondere Saxophon! MESSAs ´Close´ haben wir diesbezüglich bereits in Review und Halbjahresbilanz gefeiert, fünf weitere sollen nun folgen. Da wäre zunächst SLÆGT mit ´Goddess´ zu nennen, die wohl unterbewertetste Platte des Jahres. Ich kann nicht aufhören, den Mut und die geniale Unangepasstheit der vier Kopenhagener anzupreisen, die sich von Album zu Album stetig weiterentwickeln und ein komplexes, auch mal schräges, aber vor allem packendes und genial komponiertes Werk zwischen allen Genrestühlen abgeliefert haben, das jedem Freund progressiven Extremmetals vor Entzücken den Zahn tropfen lässt. Ich rate daher zu dänischem Lakritz statt Weihnachsgebäck – wohl bekomms!

Ein Multiinstrumentalist, Saxophonvirtuose sowie Produzent, der auch als Breakcore-DJ BONG-RA firmiert, hat mit seinem THE LΩVECRAFT SEXTET eine extrem düstere und schräge Version des Darkjazz-Genres verwirklicht, die mit ´Miserere´ in diesem Jahr ein Werk abgeliefert hat, das Jazz, Klassik, Kirchenmusik, Doom und fiesesten Black Metal sowie Filmmusik miteinander aufs genüsslichste, spannendste und herausforderndste vereint. Hier prallen Welten aufeinander, die eine bisweilen disharmonische, aber stets rundum stimmige, ja sogar sakrale Atmosphäre erzeugen, wie sie zuvor undenkbar war. Mein Tipp für gemütliche Winterabende vor dem Kamin!

Ein Gastspiel hat das Saxophon auch auf ULTHAs ´All That Has Never Been True´, was zeigt, wie offen und frei für neue Einflüsse die Band beim Abschluss ihrer Albentrilogie gewesen ist. Den Kölnern hat die Pause in jeglicher Hinsicht gutgetan, sie strotzen nur so von Spielfreude und neuen kompositorischen Ideen auf einem Werk, das sich immerhin um das wohl schwerste Thema der Menschheit dreht, den Tod und das Sterben. Ersterer steht fest, zweiteres verfolgt uns jedoch das ganze Leben hindurch, denn ständig sterben Anteile von uns durch Schicksal oder eigene Entscheidung, und genau darum geht es auf dieser Platte. Sie nimmt an die Hand, weist mögliche Wege und Alternativen heraus aus Angst und Verlorenheit, und vor allem hüllt uns dieses wohl vollkommenste Album des Quintetts in warmen Trost. Und was kann man in unseren Zeiten wohl besser brauchen?

Dr. Mikannibal ist mit ihrem Sax schon lange fester Bestandteil von SIGH, jedoch nicht einmal sie vermag Bandkopf Mirai Kawashima auf ´Shiki´ zu trösten und seine Angst vor Alter und Tod zu lindern. Er verarbeitet diese in einem Album über die vier Jahreszeiten und den ewigen Zirkel von Werden und Vergehen, der diesmal sehr doomig-schleppend, aber natürlich auch wieder höchst lebendig ausfällt, woran auch die beiden schwer metallischen Neuzugänge der Band großen Anteil haben. ´Shiki´ ist Crossover in Perfektion, hier wird zwischen epischer Zeitlupe und Highspeed, Thrash und Psychedelica, Black Metal und Punk, japanischer Folklore und singenden Gitarren hin- und hergeswitched, und das auf höchstem Niveau, dass es eine wahre Freude ist. DER Soundtrack für den wilden Tanz um den Weihnachtsbaum!

Manch einer hatte Bedenken, als IMPERIAL TRIUMPHANT gerade den smoothen Popsaxophonist Kenny G als Gast auf ihrem fünften Album ankündigten, doch wer das New Yorker Trio kennt, wusste genau, dass das Experiment nur gut ausgehen kann. Und so kam es auch, sogar noch viel besser: ´Spirit Of Ecstasy´ ist genausoviel New Yorks abyssale Kakophonie wie die saftige, exotische Frucht seiner unendlich sprießenden Kulturszene, ist ExtremmetalJazz von Berufsmusikern in höchster Komplexität erdacht und wie besessen aufgeführt, ohne jemals das Gefühl für Musikalität und ja, auch Spaß an der dekadenten Sache, zu verlieren. Nicht nur der Soundtrack zum endgültigen Niedergang unserer degenerierten Gesellschaft, passt diese falschgülden glänzende Scheibe perfekt zu Kaviar und Austern des Jahreswechsels. Wer weiß, wie viele es überhaupt noch zu feiern gibt?

 

 

Mario Wolskis

Schönheitspreise

 

 

Es war sicher kein Zuckerschlecken, das Leben von Belle Gurness. In Norwegen in bitterer Armut aufgewachsen, wanderte sie in die USA aus. Dort wurde sie als eine der ersten Serienmörderinnen bekannt. Dieses Leben vertonen ADVENTURE auf zwei Alben kongenial. Nordischer Folk, 70er Rock und Prog treffen aufeinander und lassen Blicke auf ein Leben zu, das man sich heute kaum noch vorstellen kann. Wer sich eine Mischung aus BEGGAR’S OPERA, PURPLE und ZEPPELIN vorstellen kann, ´Tales Of Belle Pt. 2: Unveiled By Fire´ ist eine Empfehlung.

In die Geschichte weit zurück ihrer Heimat Zypern schauen die Power Metaller von ARRAYAN PATH. König Evagoras von Salamis, der, um seine Macht zu sichern zwischen Athen und Persien lavierte. Aber ARRAYAN PATH lavieren nicht. Sie begeistern auf ´Thus Always To Tyrants´ mit epischem Metal zwischen Amerika und Europa, zwischen SAVATAGE, WARLORD und HELLOWEEN. Das Ganze wird gewürzt mit Klängen des östlichen Mittelmeerraums. So erzählt man Geschichten. Und Geschichte.

Da ich in letzter Zeit relativ oft den KING und THEM gehört habe, fühle ich mich bei der Stimme von Victor Solinas, der Sirene von HELL THEATER sehr schnell heimisch. Ein weiterer Grund, diese Band aus dem Veneto zu lieben, sie erzählen auch Geschichten. In diesem Falle berichten sie von den schwarz gekleideten Frauen, die der Legende nach auf Sardinien unterwegs waren, Sterbende auf dem Weg ins Jenseits zu unterstützen. Italien kann Horror nicht nur im Film. Und, wie schon einmal gesagt, ´S’Accabadora´, Legenden, von denen man spricht, sterben nicht.

Make Haste Slowly„. IMAGINAERIUM sind ein Projekt von Clive Nolan und dem parallel zum Release verstorbenen französischen Multiinstrumentalisten Eric Bouillette, dessen Vermächtnis dieses Album ist. ´The Rise Of Medici´ erzählt die Geschichte von Cosimo de Medici und seiner Gemahlin Contessina, die eine der mächtigsten Familien der Neuzeit begründeten. Diese historischen Begebenheiten treffen auf einen opernhaften, sinfonischen Neo Prog, der sich hinter Nolans Hauptbands kaum verstecken muss. Aber, wann soll man sonst dick auftragen, wenn nicht, wenn es um die Medici geht.

Die Reise von THEM und deren Figur KK Fossor geht in die vierte Runde. Nach Teil drei hätte man meinen können, diese Story ist auserzählt. Aber der Mann mit dem verbrannten Gesicht kehrt zurück. THEM führen den Hörer ins New York der Neuzeit. Dabei verlassen sie auch ihre eigenen „ausgetretenen“ Pfade. So findet man sich plötzlich in der Disco wieder. Oder stolpert über doomige, an anderer Stelle gar schwarzmetallische Elemente. Und, als ob das nicht reichen würde, mit ´191st Street´ wildert man gar im Prog. So darf es weitergehen. Auch wenn es Stimmen gibt, denen es auf ´Fear City´ zu viele altmodische Keyboardsounds gibt.

 

 

Less Leßmeisters

Schönheitspreise

 

 

Ist es nicht wunderschön, wenn kraftvoller Metal sich mehrdimensional entfaltet und alle Erwartungen im Verlauf des Albums übertrifft? Der ruppigen Härte entwinden sich gefühlvolle Passagen und formen eine Einheit, wie es einst PAIN OF SALVATION auf ihren progressiveren ersten Alben vollbrachten. Aus der Dunkelheit der metallischen Einbahnstraße vieler Bands entfalten ODDLAND auf ´Vermilion´ ein Licht am Firmament harter Musik, die deine Gedanken um viele Highlights des Genres kreisen lässt, jedoch im Endeffekt als eine ureigene, individuelle Naturgewalt im überwältigten Gefühlskosmos verweilt.

Ist es nicht wunderschön, wenn ein Meister seines Faches nach sieben Jahren und bereits einem ersten Teil Erinnerungen an die Sternstunden seiner einstigen Band mit uns teilt? Die übermächtigen Stärken von SYMPHONY X strahlen zu jeder Zeit erhaben aus den Boxen und man schämt sich fast dabei, noch nicht einmal Sir Russell Allen zu vermissen. Bombast, was Bombast heissen kann, ohne den fabelhaften Metal zu verkitschen – so perfekt komponiert und dargeboten wie AYREON oder STAR ONE mit eben nur einer Stimme, die es wirklich in sich hat und dieses Wahnsinnsalbum mit jedem Atemzug trägt: MICHAEL ROMEO´War Of The Worlds, Pt. 2´.

Ist es nicht wunderschön, wenn wahrhafte Meister des Undergrounds ihren individuellen Stil nicht verbiegen und dennoch auf jedem Album mit Überraschungen und einem erweiterten Horizont aufwarten ohne die eigene Identität zu verlieren? Der LORD hatte schon immer obskure Geschichten zu erzählen und das textliche Konzept inklusive Artwork des neuen Werkes sprengt als eine perfekte Sci-Fi Kinolandschaft alle Vorstellungskraft. Auf der musikalischen Seite verwischen sich Grenzen von Independent, Rock und epischem Metal in einem dermassen harmonischen Ausmass, das die Latte mit ´We Shall Overcome´ erneut übermächtig hoch liegt und es nur eines zu tun gilt: OBEY!

Ist es nicht wunderschön, wenn es endlich eine Band schafft, alle gebrochenen Versprechen unzähliger Reunionversuche alter Helden zwecks Reinerhaltung des wahren US-Metal doch noch umzusetzen? Von den ersten Takten an scheint die Welt dieser geliebten Stilrichtung wieder ins rechte Licht gerückt zu werden. SUMERLANDS toben sich in mannigfaltigen stilisitschen Nuancen des kompletten US-Kosmos aus und zeigen auf ´ Dreamkiller´ mit eigener Note, daß man weder ewig gestrig bleiben, noch auf neu zusammengemischte Zutaten bekannt wohlschmeckender Gerichte verzichten muss, um aufregend zu klingen. Hail US-Metal anno 2022!

Ist es nicht wunderschön, wenn das edle Genre des Artrock etwas hervorbringt, das dich immer mehr in seinen Bann zieht und du nicht eher ruhen kannst, bis das ersehnte Vinyl in deiner Sammlung steht? TIME HORIZON haben es mir in diesem Jahr mit ´Power Of Three´ besonders angetan – der Gastbeitrag eines Michael Sadler (SAGA) ist lediglich das I-Tüpfelchen auf einem Album, welches nur so vor Musikalität mit Ohrwurmpotenzial strotzt und das Beste aus vergangenen Progrock-Tagen, der songeschreiberischen Qualität der 80er und den innovativsten Vertretern der Neuzeit zusammenbringt.

 

 

Harald Pfeiffers

Schönheitspreise

 

 

´The Blues Don’t Lie´, das ist eine Botschaft, die wir im Jahr der Lügen, Kriege und Krisen sehr gerne vernehmen. Und wir können uns an dieser Botschaft orientieren, denn wir brauchen dringend positive Orientierungspunkte. Und Menschen mit Rückgrat und Empathie wie Buddy Guy, dessen Album diesen Titel trägt. Buddy ist der musikalische Botschafter, dem wir mit seinen 86 Lebensjahren unbedingt vertrauen. Denn er war immer ein Vorbild an Aufrichtigkeit und ein Humanist. Wenn er über so amibivalente Dinge wie Liebe, Gewalt, Amokläufer, Spaß oder die Vergangenheit singt, wissen wir, dass er ehrlich ist. Und dazu ist er der beste lebende Bluesgitarrist und ein großartiger Sänger. Unschlagbar.

Auf den Blues und die ehrliche, handgemachte und trotzdem virtuose Musik, kann man sich auch bei den Lovell Schwestern verlassen, die zusammen deutlich weniger Lebensjahre als Buddy aufweisen, aber auch schon seit 2010 unter dem Namen LARKIN POE im Geschäft sind. Schon letztes Jahr waren sie ganz oben unter meinen Jahresfavoriten. Nach den vielen Lobhuldigungen waren Megan und Rebecca ganz schön unter Druck. ´Blood Harmony´ hält dem Druck locker stand. Von der ersten Minute an sind die beiden Schwestern mit diesem Album das strahlende Beispiel der Gegenwart und der großen Zukunft des Blues Rock. ´Blood Harmony´ ist nicht weniger leidenschaftlich und fast so brillant wie Buddy.

Denn Legendenstatus haben FEHLFARBEN in Deutschland schon vor 42 Jahren mit ihrem Debüt ´Monarchie und Alltag´ erreicht. Und sie sind mit dem gnadenlos ironischen und manchmal auch zynischen ´?0??´ immer noch Legenden der deutschen Gegenwart. Nur merken das wenig Menschen in unserem von Energie-, Sinn- und Fußballkrisen geplagten Land. Peter Hein und seine hochkarätige Band halten unserer Nation den ganz großen Spiegel vor. Ob sinnloser Nationalstolz, Frustration, Lebensmüdigkeit oder Kritisches zur Nachhaltigkeit oder Europa. Alles wird von FEHLFARBEN in Frage gestellt und wir lieben sie gerade deshalb trotzdem. Und – ja doch – gerade durch diesen Schmerz, bekommen wir wieder einen Schub Lebensenergie für das nächste – sicher noch schlimmere – Jahr.

Wo es schmerzhaft und düster wird, da fühlen sich seit 30 Jahren auch Kirk Windstein und seine CROWBAR wohl. ´Zero And Below´ war gleich zu Beginn des Jahres ein Monument aus Dunkelheit, Nihilismus und roher Gewalt. Ein nach wie vor frisches Statement für den Schmerz, aber auch für Resilienz und Katharsis. Denn, wenn man den guten, alten Kirk betrachtet, ist zwar sein Bart unter der ständigen Gram immer grauer und immer länger geworden, aber er ist immer noch motiviert und fokussiert wie zu Beginn seiner Karriere. ´Zero And Below´ ist eines der besten Alben aus dem dunklen Musikbunker von CROWBAR und das soll schon etwas heißen.

Ganz anders ´Gummy´ von Anna Aaron. Das neue Album der unbequemen Kreativen aus der Schweiz klingt oft leicht und spielerisch. Aber hinter den oft zarten, elektronischen Klängen und dem unverkennbaren Gesang verbirgt sich auch immer etwas Beunruhigendes und Ambivalentes. Die stärkere Einbindung eines realen Schlagzeugs macht die Songs etwas rhythmischer und schneller greifbar als in der Vergangenheit. Aber Anna entwickelt ihren einzigartigen Sound auch stets weiter. Sie ist ungebremst und fernab jeglicher Trends auf der Suche nach dem Nukleus der eigenen musikalischen Entwicklung.

 

 

Sir Lord Dooms

Schönheitspreise

 

 

2022 neigt sich dem Ende und ein für mich mehr als ereignisreiches Jahr mit enorm viel Licht der gleißendsten Art und äußerst düsterem Schatten geht vorüber. Wieder ein Jahr älter und wieder same Procedure as last Year?

Nun, musikalisch dahingehend, dass ein Überangebot an geilen Platten meinen Weg säumt, ja. Gehen wir gleich in die Vollen mit IRON GRIFFIN und ihrem ´Storm Of Magic´ Album, zuerst nur als Cassette im Eigenverlag und dann durch gutes Zutun beim tollen CULT METAL CLASSICS Label als Doppel LP und CD erschienen. Das Projekt von MAUSOLEUM GATE-Mitglied Oskari Räsänen verzaubert mit einer Fülle versponnener Melodien in ein verspieltes, aber nachvollziehbar gestaltetes Songgerüst eingebaut. Das folkige Früh 70er Feeling ist beim Vergleich mit allen musikalisch auf die Traditionen schauenden Bands einzigartig und lässt mich an meine Helden JULIAN’S TREATMENT denken.

Auch DARKTHRONE schicken sich an, mit Astral Fortress´ ein neues Album rauszuhauen, nur ein Jahr nach dem grandiosen ´Eternal Hails´. Hier gibt es natürlich more of the und stilistisch haben sich die beiden Norweger wohl endgültig auf einen grimmigen, aber liebenswerten Heavy Black Metal eingegroovt, der alle Elemente dessen, was in den 80ern geil war, in schnieke und immer wieder mitreißende Songs ummünzt. Nicht mehr ganz so derb wie 1994, aber groß wie immer.

IN GRIEF aus Italien könnten nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich in die Irre führen, klingt ihr Album ´An Eternity Of Misery´ doch glatt wie ein Konglomerat aus verschiedensten Yorkshire Deathdoom Kapellen von 1992. Die Atmosphäre alter englischer Dorffriedhöfe, die längst vergessen im Nebel der Zeit vor sich hin träumen wie Cthulhu in seinem Haus in R’lyeh und diese unaussprechlich schmachtend gotischen Melodien der Gitarre gepaart mit grollenden Vocals sind schon genug, um mich zu kriegen, aber die Italiener können auch Songs epischen Ausmaßes schreiben ohne rot zu werden. So begeistert hat mich keine Deathdoomband seit VALLENFYRE mehr. Und auch vor denen lange keine. Ich bin Mal wieder für eine Stunde 18.

SATAN gehen für mich am besten mit Brian Ross (auch BLITZKRIEG) und haben auch 39 Jahre nach dem Debüt und einer Umbenennungsirrfahrt in den 80ern noch immer den Schwefel auf höchster Temperatur kochen. Die Gitarristen Tippins und Ramsey umgarnen sich gegenseitig mit fantastischen Riffs und Leads, die Herren English am Bass und Taylor am Schlagzeug zaubern darunter packende Rhythmusfiguren, deren Energie jeden Rocker ausrasten lässt. Mr. Ross am Gesang erzählt uns dann magische Geschichten mit einzigartiger und eindringlicher Stimme. Die Produktion von ´Earth Infernal´ ist dabei zeitlos natürlich gehalten und 1983 scheint nicht lang vorüber. Die Songs sind versponnener und brauchen zwei Durchläufe mehr, zu echten Hymnen zu avancieren, aber das wird.

G.O.L.E.M. stammen wie IN GRIEF aus Italien, sind allerdings musikalisch den 70ern näher. Auf ´Gravitational Objects Of Light, Energy And Mysticism´, erschienen, wo sonst, auf „Black Widow Records“, hat die Band um den ehemaligen WICKED MINDS-Organisten Apollo Negri einen Proghardrock ausgepackt, der locker mit älterem Sound auch von 1972 stammen könnte. Der Spirit und die Songs stimmen auf jeden Fall. Orgeln, Synthesizer, allerlei Pianos, dazu kräftige Rockgitarre und ein verspieltes Rhythmusfundament bilden den Unterbau für eine heimsuchende Stimme. Italoheavyprog geht immer noch.

 

 

 

[ Die Top 30 unserer teilnehmenden Redakteure befinden sich im zweiten Teil – Die Feinheiten;
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