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FEHLFARBEN – ?0??

~ 2022 (Tapete) – Stil: Deutsch Rock ~


Wir sind mit FEHLFARBEN und ´Monarchie und Alltag´ 1980 aufgewachsen. Zu ´Paul Ist Tot´ spielten wir Flipper. Die Texte haben wir mal verstanden, mal auch nicht. „Du gehst mit dem Kellner und ich weiß genau warum“ hieß es in ´Paul Ist Tot´. Nein, so genau wussten wir nicht warum. Genau so wenig, wie wir wussten, warum die Kellnerin nicht mit uns gehen wollte. Aber das ´Hier und Jetzt´ wollten auch wir behalten, das spürten wir. Und den „Grauschleier über der Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat“, den spürten wir auch jeden Tag. Deutlich.

Irgendwann war nicht nur der Grauschleier weg, sondern auch der stilbildende Sänger Peter Hein fehlte schon auf dem zweiten Album, weil er seinem drögen Job nachging. Und damit war irgendwann auch FEHLFARBEN für uns weg. Sie waren auch danach nicht schlecht, aber komplett anders. Wir sahen sie live mit TRIO 1981 und ´Tanz Mit Dem Herzen´ und ´Die Wilde Dreizehn´ waren auch super, aber eben nicht ´Paul Ist Tot ´.

Jahre vergingen und plötzlich waren sie wieder da. 22 Jahre nach ´Monarchie Und Alltag´. Mit Hein. Und ´Knietief Im Dispo´ (ehrlicherweise erschien 1991 schon ´Die Platte Des Himmlischen Friedens´ mit Peter Hein, aber das hat leider keiner mitbekommen, ich damals auch nicht). Was für ein genialer Titel. Und sie waren stark. ´Knietief Im Dispo´ war sogar ein absoluter Hammer – musikalisch und textlich. Einmalig in Deutschland. Und seitdem wurden weitere vier Platten veröffentlicht. Alle superstark. Na ja, ´Handbuch Für Die Welt´ war etwas schwächer, hatte aber mit ´Teufel In Person´ und vor allem dem genialen ´Politdisko´ auch ein paar echte Gewinner. Viele Titel auf den Platten wurden zu Klassikern der aktuellen Zeitgeschichte und der Deutschen Rockgeschichte. Das merkte nur niemand.

Wir gingen jetzt wieder zu den Konzerten und wenn der Sound abstürzte und es zu Tonproblemen kam, war ja noch Peter Hein da, der einsame Rufer in der Wüste, der uns und dem Techniker zurief: „Ach, Technik wird total überschätzt“. Einfach ins tote Mikrofon weitersang und seine Tontechniker Richtung Suizid brachte. So ist er der Peter Hein, ein Unikat.

Und ´Monarchie Und Alltag´, für Peter sicher auch „überschätzt“. Klar. Da war es im prä-coronalen Konzert 2020 plötzlich brechend voll, als 40 Jahre Monarchie und vor allem Alltag gefeiert wurden. Als FEHLFARBEN die Platte live ganz durchspielten vor Leuten, die sich zurück nach 1980 sehnten. Eine Platte zur Adoleszenz von über 60-jährigen gespielt. Zum Glück gab es noch die Untergangsballade ´Herbstwind´ von ´Xenophonie´ als Zugabe. Noch so ein starkes, wenig bekanntes Album. ´Herbstwind´ wurde damals mit deutlich mehr Leidenschaft gespielt als das umjubelte ´Ein Jahr (Es Geht Voran) ´, der schwächste und von der Band ungeliebte Titel von ´Monarchie Und Alltag´. „Total überschätzt“. Klar. Von der „Neuen Deutschen Welle“ vereinnahmt. So ein Quatsch.

Und jetzt liegt tatsächlich wieder ein neues Werk vor. ´?0??´. Unklar, ob damit das jetzige Jahr gemeint ist. Auf jeden Fall erscheint die Platte jetzt 2022. Wir dachten 2020 war ein Katastrophenjahr und 2021 ein Desaster. Aber 2022 ist das Fabeljahr für Chefzyniker. Was für ein Scheißjahr. Und dann kommt der Hein und alles wird noch schlimmer. Legt einfach seine zehn Finger in die klaffenden Wunden. Bei der letzten Platte ´Über…Menschen´ (schon sieben Jahre her!) hieß es im ersten Song ´Untergang´: „Davon geht die Welt nicht unter. Dass man sie zerstört“. Puh, das hat mich damals beruhigt und ansonsten bekam nur die junge Generation vom „Angry old man“ Peter Hein ordentlich ihr Fett weg. Deppen, die nur ins Handy gucken und so….

Aber jetzt geht es gleich richtig los. Peter singt vom Herbst des Lebens und dem bevorstehenden Ende beim Opener ´In die Welt gestellt´, der mit ´Paul Ist Tot´ Gitarrenriff startet. „Ich fühle mich in die falsche Welt gestellt…“ singt Peter. Doch nicht so schlimm. Aber dann ´Der Letzte Traum´, okay, der „war ausgeblieben…wie lange soll das noch weitergehen?“, werden wir gefragt. Und da kommt das Unwohlgefühl. Ganz tief im Unterbauch. Der Peter Hein, der Reiter der Apokalypse, der Rächer gegen Dummheit, Ignoranz und Zuversicht. Ein Kämpfer für das Dahinsiechen und das Sisyphos-Prinzip.

Und dann kriegt die Nachhaltigkeitsbewegung auf ´Nachhaltig´ auch gleich seine Faust ins Gesicht. „Nicht jede Lösung braucht ein Problem, wie war es einst ohne Lösung so bequem…“. Das mag man als clevere (oder dämliche) Wortspielereien abtun, aber das ist Hein’sche Philosophie vom Feinsten. Da hat man als nachhaltig eingestellter Mensch plötzlich wieder ein ungutes Gefühl.

Gottseidank geht es dann endlich in die Richtung, die man auf allen Platten liebt. Bei ´Stolz?´ und ´Innenstadtfront´ räumt Peter einmal mehr mit deutscher Ignoranz, Großmannssucht und braunem Deppentum auf. Nur weil man sechzig Jahre als Deutscher gelebt hat, ist das keine Leistung. „Dann sei doch scheiß stolz (…) geh scheißen mit deinem Stolz!“ Sauber. Das sitzt. Keine Empathie für die beknackten Deutschen, aber in ´Europa´ auch nicht für das sieche Europa. Nur bei ´Tanz Auf Der Straße´ ein wenig Hedonismus. Ist für mich dann gleich ein kleiner, einziger Schwachpunkt auf der Platte. Da sieht Peter Hein einmal wirklich alt aus, das erinnert an Neoalthippietum.

Alles andere saustark. In ´Brot Ohne Spiele´ oder ´Ich Kann Es Kaum Erwarten´ wird es weniger plakativ. Hört man da etwa den Humanisten? Ein kleiner Lichtblick? Gar Empathie? Nein, Kritik an der jungen Generation. Warum glaubst du Peter, dass die jungen Menschen nichts auf die Reihe bringen? Da wiederholt sich doch nur 1980: „Und wir tanzten bis zum Ende. Zum Herzschlag der besten Musik. Jeden Abend, jeden Tag wir dachten schon, dass ist der Sieg. Das war vor Jahren. Das war vor Jahren“. Illusionen, aber schön. Spätestens in ´Das Rennen Macht Müde´ kommt dann endgültig der Grauschleier der Resignation zurück. Nein, nein, das ist nicht mehr unterhaltsam. „Halt durch Peter…“ wollen wir ihm tief in unserer Resignation zurufen.

 

 

Aber jetzt genug gesagt zum immer noch wichtigsten musikalischen Philosophen der deutschen Rockmusik. Denn hinter und neben Peter Hein steht diese geniale Band. Alles super Musiker und Musikerinnen (am Schlagzeug). Die werden dieses Mal vom omnipräsenten Vorsänger schier überdeckt. Beim starken Abschluss ´3 Kapitäne´ (nee, nee, nicht die Ampelkoalition, so einfach macht Peter Hein die Interpretation für den Hörer/die Hörerin nach wie vor nicht. Oder?) spielen sich die Mitstreiterinnen und Mitstreiter kurzzeitig in den Vordergrund. Ohne das originelle, hervorragende musikalische Können, wären die Tiraden des „Anarchisten Seniors“ nur die Hälfte wert.

Ja, alte Herren wie ich, über die Jahre zynisch geworden, gar misantroph, die lieben den Peter Hein und die FEHLFARBEN. Die junge Generation erreichen sie eher nicht. Die wird ja auch nicht verstanden, nicht wertgeschätzt. Da gibt es keine Hoffnung, in die gibt es kein Vertrauen. Vertrauen, das ist bei Peter Hein abwesend. Er hat scheinbar nur Vertrauen in die Sinnlosigkeit des Daseins. Nicht einmal mehr die „schönen Mütter“ werden besungen. Ein pessimistischer Existenzialist. Ohne Illusion oder Vision. Aber das macht ihm dann richtig Spaß.

Und wir lieben ihn. Denn tief im zynischen Untergangsphilosophen steckt doch der gute, humanistische Kern. Doch. Doch. Wirklich. Und: Was wäre die Welt, der krisengeplagte deutsche Alltag ohne diesen bösartigen Rufer in der gammligen Wüste der Nachhaltigkeit? Na also….

(9,25 Punkte)


(VÖ: 14.10.2202)