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INGRID LAUBROCK – Purposing The Air

2025 (Pyroclastic Records) - Stil: Jazz/Avant-Garde/Experimental

Es gibt immer wieder Alben, die man einfach nur hört. Dann gibt es solche, die irgendwie eine besondere Aufmerksamkeit erregen und die genauer unter die Lupe genommen werden möchten. Dann gibt es aber noch diese besonderen Werke, die eine besondere und einzigartige Atmosphäre erschaffen, die womöglich zwischen Musik und Poesie tanzen. ´Purposing The Air´ von Ingrid Laubrock ist genau so ein Werk. Es ist eine sorgfältig ausgeklügelte Zusammenstellung von sechzig kleinen Klangstücken, geschrieben für vier Gesang/Instrument-Duos, von denen jedes seinen eigenen Charakter mitbringt und von der poetischen Sprache der Dichterin Erica Hunt getragen wird.

Ingrid Laubrock ist eine Künstlerin, die schon seit vielen Jahren ihre eigene Stimme gefunden hat. Geboren in Deutschland und musikalisch in London gewachsen, hat sie sich in New York zu einer zentralen Figur der progressiven Musikszene entwickelt. Sie zählt heute zu den spannendsten Stimmen an der Schnittstelle von Improvisation, Neuer Musik und Klangkunst. Sie versteht es wie kaum eine andere, musikalische Räume zu öffnen, die sich keiner Stilrichtung unterordnen, sondern ganz aus ihrer inneren Logik und klanglichen Tiefe heraus entstehen.

Mit ´Purposing The Air´ erweitert Ingrid Laubrock ihren eigenen kreativen Horizont, indem sie zum ersten Mal ihr eigenes Spiel hintenanstellt und nur als Komponistin, Konzeptgestalterin und Kuratorin agiert. Es gibt kein Saxophon, das sich durch die Stücke zieht, es gibt keinen improvisierten Input aus ihren Fingern. Ihre Stimme hört man durch andere Künstler wie Fay Victor, Sara Serpa, Theo Bleckmann und Rachel Calloway.

Das Herzstück dieses Albums bildet das Gedicht „Mood Librarian – A Poem in Koan“ von Erica Hunt. Ihre Sprache ist minimalistisch, manchmal rätselhaft, aber immer poetisch. Diese Form des Schreibens erschien für Ingrid Laubrock wie geschaffen, um eine Sammlung von musikalischen Vignetten zu kreieren. Jedes kleine Gedicht, jeder kurze Abschnitt ist für sie wie ein eigenständiges Kunstwerk, perfekt zugeschnitten auf das jeweilige Duo.

Das erste Viertel des Albums (CD 1, Tracks 1–15) wird von der rauchig-erdigen Stimme von Fay Victor und dem kraftvollen Spiel von Mariel Roberts am Cello geprägt. Ihre erste Zusammenkunft überrascht mit einer bemerkenswerten Chemie: von spukhaften Klängen (Track 1: Koan 28) bis hin zu spannenden Dialogen (Track 2: Koan 13) und jazzmäßigem Improvisationsspiel (Track 6: Koan 11). Besonders eindrucksvoll ist die Dynamik in Track 10: Koan 38, wo das Cello stark und fast aggressiv erklingt, während Fay Victors Stimme darüber schwebt, tastet und sich expressiv entfaltet.

Auf dem zweiten Viertel des Albums (CD 1, Tracks 16–30) finden wir das Duo bestehend aus Sara Serpa (Stimme) und Matt Mitchell (Klavier). Ihre 15 kleinen Stücke entfalten sich wie filigrane Klangbilder. Sara Serpas Stimme schwebt oft ohne Worte, manchmal flüsternd oder in Fragmenten, über Matt Mitchells präzises Klavierspiel, das aus faszinierenden, zarten Harmonien und rhythmischer Klarheit besteht. Track 21: Koan 42 zeigt eine beeindruckende Verschmelzung von Loops und komplexer Klavierstruktur und ist ein Beispiel für leise, raffinierte Komplexität.

Die zweite Hälfte führt uns in die Welt von Theo Bleckmann und Ben Monder. Ihre Stücke (CD 2, Tracks 31–45) bewegen sich zwischen klanglicher Fülle und fast gespenstischer Reduktion, mit Gitarrenklängen, die sanft über den Hörer hinweg ziehen (Track 39: Koan 40), vokalen Ansatzpunkten (Track 34: Koan 24), feinen Picking-Mustern (Track 44: Koan 51) und dramatischen Klängen, die sich verdichten (Track 38: Koan 45). Theo Bleckmann verwendet seine Stimme weniger als ein Mittel zum Transport von Worten, sondern als atmendes, summendes und manchmal zerrissenes Instrument.

Den Abschluss im letzten Viertel des Albums bildet das “Duo Cortona” mit Rachel Calloway und Ari Streisfeld. Ihre Interpretation der letzten Koans (CD 2, Tracks 46–60) strahlt eine fast neoklassische Klarheit und Schönheit aus. Rachel Calloways Stimme ist lyrisch und ihr Vibrato ist sanft und zurückhaltend, während Ari Streisfelds Violine gleichwertig im Klanggefüge verwebt. Track 58: Koan 2, aus dem auch der Titel des Albums stammt, ist das stille, fast sakrale Finale dieser vielschichtigen Klangreise.

Ingrid Laubrock hat die Kompositionen in stillen Momenten an unterschiedlichen Orten allein konzipiert, zwischen 2022 und 2024 aufgenommen und dabei bewusste Entscheidungen für die unterschiedliche und klangliche Ausprägung der Duos getroffen. So fand jedes Gedicht seinen eigenen Platz in dieser Reihe, oft basierend auf einem Gefühl oder einer Klangvorstellung.

Diese persönliche Note macht ´Purposing The Air´ zu einer Sammlung von kleinen Stücken, die alle zusammen ein imaginäres Archiv von Emotionen bilden. Zur Erkundung und Erfahrung dieser faszinierenden Sammlung von musikalischen Miniaturen braucht es Zeit und ein offenes Ohr. Denn diese Musik ist Kunst, die dazu anregt, zuzuhören, nachzudenken und zu reflektieren. Diese Meisterschaft zwischen Klang und Wort muss auch nicht unbedingt im Jazzregal abgelegt, sondern kann auch zwischen Gedichtbänden aufbewahrt werden. ´Purposing The Air´ gehört an den Ort, wo das Wort lebt, und an den Ort, wo die Stille zwischen den Noten einen ebenso wichtigen Platz hat wie die Töne selbst.

(9 Punkte)

https://ingrid-laubrock.bandcamp.com/album/purposing-the-air
https://www.facebook.com/laubrock

Albuminfos:
Purposing The Air
Pyroclastic Records, 2025
Doppelalbum, 60 Stücke

Besetzung:
Ingrid Laubrock – Komposition, Konzeption
Fay Victor – Stimme
Mariel Roberts – Cello
Sara Serpa – Stimme
Matt Mitchell – Klavier
Theo Bleckmann – Stimme
Ben Monder – Gitarre
Rachel Calloway – Mezzosopran
Ari Streisfeld – Violine

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