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SIGH – Shiki

~ 2022 (Peaceville Records) – Stil: SIGH halt…


Wenn ich was Neues von SIGH höre, ertappe ich mich immer wieder beim Gedanken daran, wie gewisse Herren aus der Schweiz, aus Skandinavien und Griechenland wohl 1990 reagierten, als die Japaner ihr erstes Demo herausbrachten. Waren sie entsetzt, begeistert, überwältigt, schockiert, oder haben vielleicht sogar gelacht? Wir werden es wohl leider nie erfahren, obwohl mich eine solche Umfrage bei den damaligen Protagonisten des Black Metal durchaus reizen würde… auch wenn einige leider nicht mehr antworten können.

Während sich über die 90er Jahre in diversen Ländern aus Szenen stilistische Schulen entwickelten, blieben die Tokioter einfach immer nur – sie selbst. Same same, but very different. Und so ist es bis heute geblieben, nach über dreißig Jahren und zwölf Alben. Das liegt natürlich vor allem an Mirai Kawashima, dessen einzigartige, für vielerlei Einflüsse und Experimente offene Persönlichkeit die Band geprägt hat und stets ihre Entwicklung vorangetrieben hat, die sich vom Black Metal, von Anfang an eng verquickt mit den eigenen kulturellen Wurzeln, mal hin zu Psychedelischem, Progressivem, Noisigem, auch Jazzigem, Neumusikalischem und Soundtrackartigem wandte, und dann wieder zurück zu klassischem Heavy Metal, aber immer mit beiden Beinen in der leicht ver-rückten Avantgarde, und ich musste herzlich lachen, als ich hier sein kurzes Video zur Veröffentlichung von ´Shiki´ sah.

Im Vorfeld erklärte Kawashima, dass er mit dieser Platte seine Angst vor dem Altern und vor allem dem Tod verarbeite, etwas was man mit dem Energiebündel Dr. Mikannibal und den gemeinsamen Kindern an der Seite so nicht erwarten sollte, aber die Wechseljahre machen eben auch vor Männern nicht halt und Marai war ja schon immer ein unerschrockener Pionier, der sich neuen Herausforderungen und Themen stellt.

 

 

Es geht aber auch um die Todesstrafe (´Satsui – Geshi No Ato´), Leichname (´Shikabane´) und die profane und gleichzeitig philosophische Feststellung, dass alles, was lebt, sterben muss (´Shoujahitsumetsu´). SIGH verbinden die Gedanken über die Vergänglichkeit zudem mit der Thematik der vier Jahreszeiten, die eben auch auf das menschliche Leben angewendet werden kann.

Kurz und schmerzlos, so soll der Tod möglichst kommen, und so ist ´Shiki´ ein sehr kompakter Paukenschlag geworden, der vom frischen Wind der beiden Neuen an Schlagzeug und Gitarre profitiert, jedoch SIGH in Quintessenz ist. Bei dieser Platte werden sie von Mike Heller (FEAR FACTORY, MALIGNANCY, RAVEN) sowie Frédéric Leclercq, dem KREATOR-Bassisten (u.a. auch SINSAENUM, Ex-DRAGONFORCE), verstärkt und ich bin nicht wirklich verwundert, in meiner ANGSTSKRIG-Rezension, bei denen er ebenfalls Gitarrensoli hinzusteuert, diese Parallele vorweggenommen zu haben; beide sind auch zusammen mit der japanischen Gitarristin Saki bei AMAHIRU aktiv. Den Bass bedient wie immer stoisch und gleichzeitig virtuos das langjährige Bandmitglied Satoshi Fujinami, und alle zusammen haben sie eine gute Dreiviertelstunde richtig viel zu tun, all die kuriosen und genialen Ideen umzusetzen, die dieses zwölfte Album zu einem Dauerbrenner im Player machen.

´Shiki´ heißt jedoch nicht nur “Zeit zu sterben”, sondern lässt sich auch mit „Vier Jahreszeiten“ übersetzen, Mirai ist demzufolge im Herbst seines Lebens und schaut somit auch auf dem Cover sentimental auf die Kirschblüten, dem typisch japanischen Symbol für den Frühling. Er, der schon immer das verkörpert, was man heute allerorten so Kauz nennt, gibt sich keinerlei Mühe, schön zu singen, sondern ganz seinen düsteren Vorahnungen hin, schimpft und krächzt und schreit hemmungslos seinen Alternsschmerz heraus, im zentralen Longtrack ´Kuroi Kage´ schleppt er sich mit letzten Kräften in einem gequält schiefen, sabbathesken Rhythmus vor seinem „schwarzen Schatten“ weg, doch ein typisch strahlendes Leclercq-Solo bringt ihn schließlich sogar dazu, mit ihm ein progressiv-psychedelisches Tänzchen zu wagen. Hier wird meisterlich und auf diversen Ebenen japanische Musik mit Doommetal verquickt. ´Shoujahitsumetsu´ wiederum paart Highspeed-Thrash mit progressivem Melodeath mitsamt entsprechenden Twingitarren, das epische ´Shouku´ prescht mit klassischen galoppierenden Rhythmen voran, und im grandios abgespaceten ´Fuyu Ga Kuru´ weint Mirai sogar bitterlich in seine Querflöte, wenn er nicht gerade den Vocoder malträtiert, auch Dr. Mikannibals Saxophon vermag ihn nicht zu trösten. Doch der Punk’n’Roll-Vibe von ´Shikabane´ erweckt den Untoten wieder zum Leben…

Ich könnte nun mit den weiteren Songs genau so weitermachen, nur hilft das nicht wirklich (und nimmt in diesem Fall auch die Spannung vorweg), denn eine verbale Beschreibung eines SIGH-Stückes wird es niemals in Gänze erfassen können, diese Band muss man hören, spüren, schmecken. Zu viele unterschiedliche Stile werden in ein und demselben Moment zu einem gleichzeitig grellbunten wie geschwärzten, schillernden Gewebe verwoben, ständig, ja sekündlich werden wir von neuen Ideen überrascht, die jedoch stets zusammenpassen, so wie das Drehen durch die Radiofrequenzen in ´Satsui – Geshi No Ato´ aus unzusammenhängenden Dissonanzen ein heimeliges Nostalgiegefühl erzeugt.

So hört man den Einfluss der beiden westlichen Neumitglieder zwar an den für sie bestimmten Stellen deutlich heraus, es bleibt jedoch insgesamt stets einfach SIGH, und wer den Japanern einmal verfallen ist, wird sich mit dieser vielschichtigen Platte voller Reminiszenzen an drei Jahrzehnte Heavy Metal- und Rock-Geschichte nicht nur im aufziehenden Herbst und Winter, sondern in allen Jahreszeiten pudelwohl fühlen, und immer wieder versteckte, geniale neue Details erkennen. Stellte der hochklassige Vorgänger ´Heir To Despair´ japanische Kultur dem Westen noch eher gegenüber, so haben SIGH mit ´Shiki´ das Kunststück geschafft, wirklich alle ihre vielerlei Einflüsse in eine absolut runde Platte zu gießen, die aus dem schwarzmetallischen Yin kommend nun von den Urgründen des Rock über den klassischen Heavy Metal das Yang auffüllt und ergänzt. Mirai und den Seinen seien noch viele weitere so produktive Jahre und künstlerische Höhenflüge gewünscht, und dementsprechend muss auch die Wertung ausfallen:

9,3 Punkte.

 

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