JahresrückblickeMeilensteine

Die absolute Hälfte 2023

~ Halbjahresbilanz 2023 ~


Liebe Freunde der gepflegten Unterhaltung.

Da erst die Hälfte des Jahres 2023 hinter uns liegt, können wir zwar noch keine leckeren Spekulatius zum Musikhören am Mittsommerfeuer genießen, aber gleichwohl ein erstes Resümee der bisherigen Veröffentlichungen des Jahres ziehen.

Allerdings wollen wir Euch zu dieser Jahreszeit noch längst nicht mit langweiligen Listen konfrontieren, sondern haben wie gewohnt die schönsten Scheiben der vergangenen Monate ausgewählt, um sie Euch nochmals in Erinnerung zu rufen, sofern Ihr sie nicht selber schon auf Eurem Plattenteller ohne Unterlass abspielt.

Somit wünschen wir Euch weiterhin viel Freude mit den Schönheiten des Jahres 2023.

 

OVERKILL – Scorched

(von Harald Pfeiffer)

´Scorched´ ist kein ´Feel The Fire´ oder ´Taking Over´, nein, OVERKILL haben sich immer weitentwickelt, ohne ihren Sound zu verwässern oder irgendwelchen musikalischen Strömungen hinterherzulaufen (bis auf kleine Ausnahmen wie bei ´I Hear Black´). Das kann man von vielen anderen Bands nicht sagen, die mit den New Yorkern gestartet sind und heute krampfhaft versuchen, an die glorreiche Vergangenheit anzuknüpfen. OVERKILL haben ihre Vergangenheit nie verleugnet und sind vielleicht deshalb weitaus glaubwürdiger. Und ´Scorched´ ist eines ihrer stärksten Alben in den letzten Jahrzehnten. Keine Abnutzungserscheinungen weit und breit.

 

TANITH – Voyage

(von Michael Haifl)

Schöne Musikscheiben stehen nicht lange am Wegesrand, im Plattenladen oder verstauben im eigenen Plattenregal. Das zweite Werk von TANITH, angeführt von Sänger/Gitarrist Russ Tippins (u.a. SATAN) aus Großbritannien und Sängerin/Bassistin Cindy Maynard aus Brooklyn, USA, dürften sich Bewunderer des Heavy Rock, der New Wave of Britisch Heavy Metal und des urige Heavy Metal ohne zu zögern als Vinyl zulegen, zumal ´Voyage´ den Vorgänger bei weitem übertrifft. Die auf Triogröße geschrumpfte Besetzung erfreut nicht nur mit einer rein analogen Produktion, einer analogen 24-Spur-Aufnahme, sondern hat mit Kompositionen wie ´Snow Tiger´, ´Mother Of Exile´ oder ´Flame´ auch große Lieder für die gepflegte Metal-Party anzubieten. Bei regem Zuspruch aus ihrer Anhängerschaft sollte sich aus dieser englisch-amerikanischen Freundschaft noch weitaus mehr entwickeln.

 

METALLICA – 72 Seasons

(von Marcus Köhler)

Nach 40 Jahren an Veröffentlichungen und Jahrzehnten auf dem Gipfel des Erfolges, sind die Erwartungen an ein neues METALLICA-Werk natürlich auch anno 2023 besonders hoch. Die Rahmenbedingungen für das elfte Studioalbum der vier Kalifornier hätten jedenfalls gar nicht besser sein können: Pandemie und Lockdown, noch weitere, geradezu apokalyptische Horrorszenarien infolge des Klimawandels und Krieges, und vor allem die persönlichen Dämonen eines James Hetfield, der mit seiner Alkoholsucht und familiären Problemen zu kämpfen hatte, sorgten für eine Atmosphäre des inneren Aufruhrs und der Selbstreflexion.

´72 Seasons´ ist an sich zwar kein Konzeptalbum, aber vom Albumcover bis hin zu den Dutzenden knallharten Songs wird es von dem vereinheitlichenden Thema zusammengehalten, wie unser Erwachsenenleben von unserem jüngeren Selbst geprägt ist, dem Guten wie dem Bösen – und es ist das mit Abstand beste METALLICA-Werk seit dem ´Black Album´! Jede Ära ist hier vertreten, aber auf eine ehrliche, fast unbewusste Art und Weise, die die Band von Natur aus zu ihren Wurzeln zurückführt. Es ist eine Liebeserklärung an die Vergangenheit und gleichzeitig ein Blick nach vorne. METALLICA finden sich hier nun endlich in ihrer archetypischen Form wieder – und die Seelenreinigung von ´72 Seasons´ fühlt sich echt und wahrhaftig an, so als wäre ein Leben voller Lasten, zumindest teilweise, für den Moment von uns genommen.

 

WINGS OF STEEL – Gates Of Twilight

(von Jürgen Tschamler)

Schon der Bandname suggeriert in aller Deutlichkeit, was man von den Amis erwarten kann: Metal. Nein, genauer US Metal mit starker Neigung in QUEENSRYCHE-Gefilde. Und genau diese Band ist Dreh- und Angelpunkt im musikalischen Geschehen von WINGS OF STEEL. Die Kompositionen sind aus feinstem Stahl geschmiedet, wozu QUEENSRYCHE schon lange nicht mehr in der Lage sind. Allerdings kann man den Jungs nicht unterstellen im Windschatten der Seattle Legende zu segeln. Dazu sind Nummern wie ´Fall In Love´, ´Cry Of The Damned´ oder der Titeltrack einfach zu übermächtig und über weite Strecken zu eigenwillig. US Metal-Nerds, das ist das Album der Stunde!

 

DISPYRIA – The Story Of Marion Dust

(von Less Leßmeister)

Selten, ganz selten hat jemand seine dunkelsten Stunden und inneren Dämonen kreativer bekämpft als Jürgen Walzer. Die Selbsttherapie hat sich mittlerweile zu einem dreiteiligen Epos verselbstständigt, dem weitere Teile folgen werden. Selten, äußerst selten hat jemand Zak Stevens, Ralf Scheepers und den mächtigen „Lizard“ mit hochkarätigen Songs besser klingen lassen als dieser Jürgen. Selten, ganz selten hatte eine Metaloper musikalisch und textlich mehr Hand und Fuß als diese kitschfreie, dritte Reise in das Innere des Protagonisten Josh auf seiner Suche nach Erlösung. Selten, unglaublich selten bekommt man ein solches Werk auch live geboten und schwelgt in diesen neuen Songs als auch in der glorreichen Vergangenheit von SAVATAGE und SUPERIOR. Als die Welt noch in Ordnung war.

 

THIN LIZZY – Live And Dangerous At Hammersmith 14 Nov 1976

(von Harald Pfeiffer)

Ja, da hat die Plattenfirma tatsächlich endlich entdeckt, dass es noch ein paar THIN LIZZY-Supporter auf der Welt gibt, die auch ein Budget zur Verfügung haben. Und ich alter Mann habe mich ins grausige „Record Store Day“-Getümmel gestürzt. Nach der genialen 8-CD-Box ist zumindest eines der zusätzlichen Konzerte jetzt auch auf Vinyl veröffentlicht worden. Das erste Konzert der drei Hammersmith-Auftritte vom 14.11.1976. Mit Brian „Robbo“ Robertson und Scott Gorham war die Band auf dem absoluten Höhepunkt ihres Schaffens. Hier gibt es Songs wie ´It’s Only Money´ oder die fast zehn Minuten lange Version von ´Still In Love With You´. Ein historisches Dokument der besten Band der Rockgeschichte.

 

CROWN LANDS – Fearless

(von Less Leßmeister)

Selten, äußerst selten bekommt man bei einem 18-minütigen Opener ein solches Rohr und verliert beinahe seinen Verstand, weil man zunächst denkt, es bestünde eine Lücke in der RUSH-Kollektion gegen Ende der 70er, als vielleicht Geddy Lee Urlaub auf Malle gemacht hat. Doch die Aufregung bleibt bestehen – ebenso wie der eben exponentiell gehobene Spannungslevel – während die beiden (!!) Musiker mehr und mehr ihre eigene Identität aufbauen. Wären das damals die Superstars über die folgenden Dekaden geworden? Selten, furchtbar selten, hat ein Album bei mir dermaßen nachgewirkt und gerade mal Null von seiner Faszination über Wochen eingebüßt als ´Fearless´.Außer vielleicht die ´Show Of Hands´ von RUSH damals.

 

WITCHSKULL – The Serpent Tide

(von Jürgen Tschamler)

Auf WITCHSKULL ist Verlass. Das australische Trio zelebriert einmal mehr das, was es am besten kann und verwässert seinen Sound nicht mit Spielereien oder Innovationen. WITCHSKULL stehen für Power-Riffs was sich in Mega-Power der Songs entfesselt. Die wenigen dezenten Veränderungen gegenüber den Vorgängern erkennen wahrscheinlich eh nur echte Fans, der Rest wird von den Abriss-Riffs und dem unverwechselbaren, teils leidenden Gesang erschlagen. Klar, WITCHSKULL sind egozentrisch, anders, aber sie liefern brutal. Danke für eine erneute Attacke auf die Nackenmuskeln.

 

THE EVIL – Seven Acts To Apocalypse

(von U. Violet)

Doom, das traditionelle Kerngeschäft des Heavy Metal, hat nicht nur den höchsten Frauenanteil, sondern auch die stärkste Verbindung zum Okkulten – Hexenwerk oder Zufall? Hört man dieses Debüt aus Brasilien, einem Land, das für Doommetal bisher nun wirklich nicht bekannt war, glaubt man nicht mehr an Letzteren, denn allein Miss Wornous’ zwischen Opern-, Klar- und rauem Gesang wechselnde intensive Interpretation der Sieben Todsünden zieht den Hörer unweigerlich tief in die Vorhöfe und Kreise des Höllenfürsten. Dass THE EVILs Bandchef einer der bekanntesten lateinamerikanischen Blackmetaller ist, passt dazu wie die Vier Reiter zur Apokalypse. Der Untergang ist nahe und unvermeidlich!

 

SIENA ROOT – Revelation

(von Harald Pfeiffer)

SIENA ROOT sind gefährlich. Am Anfang fand ich ihre Musik einfach nur sehr schön, aber mit der Zeit wird man richtig süchtig nach ihnen. Die schwedische Band hat sich als Vorbilder die Bands ausgesucht, die Ende der 60er-Jahre die Rockmusik revolutioniert haben. Mit Zubaida Solid haben sie eine großartige Sängerin an Bord, die in den besten Momenten an Heroinnen wie Grace Slick erinnert. Und Sternstunden wie ´Dusty Roads´ oder ´Keeper Of The Flame´ sind jetzt schon selbst halbe Klassiker. Das Vinyl-Album ist vom Coverartwork und dem musikalischen Inhalt qualitativ schlichtweg großartig.

 

URIAH HEEP – Chaos & Colour

(von Less Leßmeister)

Selten, unglaublich selten hält der Chef einer Band seinen Laden über 54 Jahre zusammen, überdauert viele seiner alten Freunde und Sparringspartner und hat in seiner Karriere nie ein komplett schlechtes Album abgeliefert – zwar einige wenige schwächere oder stilfernere, dafür stehen auf der „Haben“-Seite eine Unmenge von überragenden Songs bis hin zu Klassikern für die Ewigkeit, die sich auch über ganze Alben aneinanderreihen. Nun legt Mick Box mit seinem gefestigten „neuen“ Kern Phil Lanzon an den Keyboards und dem mittlerweile fünften Ausnahmesänger in Folge Bernie Shaw (beide seit 1986, hihi) einen neuen Wegmarker vor. Und selten, höchst selten erweist sich ein Album solch einer altgedienten Band als ein kleines Meisterwerk, welches man zusammen mit der „Comeback“-Scheibe ´Wake The Sleeper´ (nach 10 Jahren Studioabstinenz) als absolute Highlights der Discografie bezeichnen muss, da durch jeweils neues Blut in der Band eine unbändige Power erzeugt wurde, die man nur selten, unfassbar selten bei einer Band dieser Generation noch findet.

 

MUDHONEY – Plastic Eternity

(von Marcus Köhler)

MUDHONEY gehören für mich neben PEARL JAM zu den letzten bedeutungsvollen Überlebenden der Grunge-Ära, sie waren vor allem in den späten 80ern und frühen 90ern Amerikas unbestrittene Garage-Punk-Darlings, und nach mittlerweile 35-jährigem Band-Bestehen bringt uns nun ihr neuestes, 11. Studioalbum ´Plastic Eternity´ einen weiteren Brocken an dreckigen Garagen Rock-Moves, lyrisch köstlich garniert mit dem von ihnen gewohnt düster-amüsanten Sarkasmus.

Es ist ein Album, das vehement gegen die Rechtschaffenen rüffelt, Schleudertrauma-Akkorde in den Äther hallt und den ganzen Dreck an moderner Oberflächlichkeit in eine eklektische, knorrige, knurrende Ode an Garage, Punk, Psychedelic und trippige Desert Jams fegt.

MUDHONEY haben über all die Jahre mit ihrem Punkrock-Heulen stets eine bestimmte destillierte Essenz verkörpert, und mit ´Plastic Eternity´ haben sie nun einen reibungslosen Übergang von jung und angepisst zu alt und mürrisch vollzogen, eben gerade weil sie sich selbst nie allzu ernst genommen haben. Durchgängig sind die sardonischen, düster-humorvollen Geschichten von Männern, die die Seattle-Grunge-Szene und ihr chaotisches Erbe überlebt haben – und sie haben ihre Trickkiste einmal mehr gerade gut genug durchgeschüttelt, um eine weitere Ansammlung an ausnahmslos starken Songs zu erschaffen!

 

ELEMENT OF CRIME – Morgens um vier

(von Michael Haifl)

Schöne Musikscheiben stehen nicht lange am Wegesrand, im Plattenladen oder verstauben im eigenen Plattenregal. Das fünfzehnte Werk von ELEMENT OF CRIME dürfte sich nicht nur der Nostalgiker längst als Vinyl zugelegt haben, da die Musik von ´Morgens um vier´ in den blauen Stunden der Nacht unbedingt von einer Plattenspielernadel erfasst werden muss. Das Quartett entfacht dabei keinen Sturm im Wasserglas, sondern sinniert wie gewohnt in Kneipenallegorien über das alltägliche Leben. Nie klangen ELEMENT OF CRIME schöner als im Duett ´Dann kommst du wieder´ mit Gast-Sänger Tobias Bamborschke, nie aufgeräumter als in ´Ohne Liebe geht es auch´ und nie zuvor gaben sie in ´Unscharf mit Katze´ so entwaffnend zu, dass sie in den folgenreichen und schweren Zeiten der Gegenwart ebenfalls keine Lösung parat haben, sondern nur ihre Lieder.

 

KARIN RABHANSL – Rodeo

(von Less Leßmeister)

Selten, ganz selten hat mich die bayrische Mundart so gepackt wie auf den Alben der Karin (diesmal nicht meine Frau). Wer jetzt das Gesicht verzieht und an Kommentare von Protagonisten des Vereins Bayern München denkt, ist ein armes Häuflein unwissendes Elend. Denn die Karin hat was zu sagen – in ihrem niederbayrischen Dialekt als auch in Hochdeutsch für alle Saupreiß’n. Selten, unfassbar selten wurden diese persönlichen Erfahrungen in eine Musi verpackt, die nur so vor Lebendigkeit, Kraft und Verve strotzt und sich auf der anderen Seite so wunderbar nachdenklich und verletzlich zeigt. Seit der diesjährigen LP hat die Karin mit der Tastenvirtuosin Julia (die live die zweite Gitarre powert), dem Guitarwizard Joschi und der Drummaschine Simon eine Band parat, deren Einheit und Chemie so unglaublich natürlich passt, dass dieses ´Rodeo´ von Album ein dermaßen heißer Ritt geworden ist, dem sich eigentlich kein normaler Rockfan entziehen kann. Stellt diese vier auf die größten Bühnen des Rockzirkus und zieht euch warm an. Glaubst net, Oida? Isso.

 

TEMTRIS – Khaos Divine

(von Jürgen Tschamler)

Auf ihrem siebten Album laufen die Australier um Frontfrau Genevieve Rodda zur Höchstform auf.  Verfeinertes Songwriting, ausgeprägte Originalität und vor allem Spielwitz gepaart mit tighter Heavyness. Der harte Heavy Metal wird mit teils unüberhörbaren, technischen Thrash Metal-Elementen sowie viel Tempowechsel superb abgerundet. Man liefert Songs, die dem Reinheitsgebot der Metal Bibel unterliegen und setzt zudem auf deutliche Nachhaltigkeit. Die Produktion ist enorm transparent, was der zusätzlichen Härte zu Gute kommt. TEMTRIS sind ein echter Abriss. Und im September in Europa auf Tour! Nicht verpassen!

 

THE WAEVE – The Waeve

(von Harald Pfeiffer)

Schön, dass es noch Projekte gibt, die etwas ganz Neues ausprobieren und sich nicht um Trends kümmern oder im Nostalgietrip gefangen sind. Weder Graham Coxon und THE BLUR, noch THE PIPETTES, die Band von Rose Elinor Dougall, haben sich in meiner Rocksammlung festgebissen. Aber THE WAEVE mischt Folk Rock, Progressive Rock und ein halbes Dutzend anderer Musikstile zu einem wirklich neuen musikalischen Erlebnis zusammen. Das gefällt nicht immer, lässt einen aber auch nie gleichgültig und kann in den besten Momenten etwas Neues, Aufregendes kreieren.

 

THOD – Asklepios

(von U. Violet)

Drei experimentelle Franzosen haben die Schnauze voll vom althergebrachten Konzeptalbum, und nehmen sich statt eines philosophischen Themas den Gott der Heilkunst sowie diverse tödliche, teils längst ausgerottete Infektionskrankheiten vor, um sie in einem morbiden Mix aus Doom, Black Metal und avantgardistischem, proggig-jazzigem Noise zu neuem musikalischen Leben zu erwecken. Und um das Ganze noch drastischer zu machen, besinnen sie sich darauf, dass nur Deutsch als Gesang so richtig böse klingt. Herausgekommen ist ein Debüt, das die Krankheit Mensch an der Wurzel packt und perfekt in die andauernde Rekonvaleszenz nach Covid-19 passt.

 

OVERHEAD – Telepathic Minds

(von Michael Haifl)

Schöne Musikscheiben stehen nicht lange am Wegesrand, im Plattenladen oder verstauben im eigenen Plattenregal. Das sechste Werk von OVERHEAD dürfte sich der Musik-Gourmet schnellstens als Vinyl zulegen, zumal ´Telepathic Minds´ die erste Vinyl-Veröffentlichung der Finnen ist. Das Quintett entfacht einen musikalischen Reigen, der zwischen Rock und Space, Psych und Prog niemals enden möge, denn er erhebt gut 90 Minuten lang die Stimme und lässt das reiche Instrumentarium sprechen, um die Musik aus längst vergangenen Tagen in der längst vergessenen Gegenwart erschallen zu lassen. Bescheiden wie sie sind, müsst Ihr ab sofort das Sprachrohr sein, damit jeder von diesem Meisterwerk von OVERHEAD erfährt.

 

CHAOS INSIDE – The Raven, The Joker And The Machine

(von Less Leßmeister)

Selten, sehr selten klingt Metal heutzutage so eigenständig und innovativ, ohne in die ewig gleichen Muster zu verfallen. Selten, viel zu selten gelingt es einer Band, ihre musikalischen Fähigkeiten und progressive Einsprengsel so songdienlich zu verpacken und trotzdem abzufetzen, ohne sich in irgendwelche unnötigen Frickelorgien zu verlieren, die heutzutage jeder so nötig braucht wie das nächste überlange Drumsolo live. Selten, abartig selten waren Texte über die Arschlöcher auf diesem Planeten so locker-flockig in erstklassige Songs eingewebt und hat ein „Gfckyrslf“ so freundlich geklungen, wenn es der netteste Misanthrop des Planeten singt. Selten, nein überhaupt gar nicht habe ich jemals die SAGA-Karte gezückt, um die Klasse einer Band zu beschreiben. Schon gar nicht im Metal. CHAOS INSIDE ist derzeit das geilste Trio, welches es für mich im Metal gibt.

 

ROADWOLF – Midnight Lightning

(von Jürgen Tschamler)

Hätte ich mir auch nicht träumen lassen, mal eine österreichische Band in einer Top-5-Besten-Liste zu platzieren. Aber man lernt glücklicherweise nie aus. Und so liefern ROADWOLF mit ihrem zweiten Album ´Midnight Lightning´ einen Dauerläufer in Erst-Liga-Niveau. Spritziger Heavy Metal mit Old School-Schlagseite, erfrischend und wenig ausgelutscht, dafür mit hohem Ohrwurmpotential! Selbst vor einem Saxophon-Einsatz macht man nicht Halt, ´High Under Pressure´, was einen komplett wegfegt. ´Midnight Lightning´ strotzt vor superben Songs, die grundsätzlich den Heavy Metal-Puristen ansprechen, aber die Band selbst nicht vor THIN LIZZY-Passagen in den Songs zurückschreckt. Seht geil! Klasse Album, das in der Oberliga der sogenannten „Jungen Wilden“ mitspielen kann.

 

DØDHEIMSGARD / DHG – Black Medium Current

(von U. Violet)

Gerade der norwegische Black Metal ist stets konsequent den Weg der Innovation weitergegangen und oft ganz woanders gelandet, als von wo die Bands ursprünglich aufgebrochen waren, und doch lassen sich bis heute stets die gemeinsamen Zweite Welle-Wurzeln erkennen. Im Falle DØDHEIMSGARDs ging der Weg über den Industrial Metal hin zur psychedelischen Avantgarde, und mit diesem sechsten Studioalbum und gleichzeitigem Magnum Opus sind Vicotnik und seine Mannen nun endgültig im progressiven Black Metal angekommen. Das Cover im PINK FLOYD-Design verspricht eher zu wenig als zuviel, es ist fraglich, wer dieses Highlight in der zweiten Jahreshälfte noch toppen soll.

 

SWANS – The Beggar

(von Marcus Köhler)

Ein wahres Album-Epos! Ganze 121 Minuten lang SWANS! Aber ich erinnere auch gerne an ihre Live-Auftritte, die ebenfalls meist die Zweistundenmarke überschreiten. Jedenfalls gilt jedem, der ´The Beggar´ tatsächlich komplett durchsteht, mein voller Respekt aber gerade dieser abendfüllende Ansatz ermöglicht eben auch ungemein viel Raum für ausgedehntes Experimentieren, und man vernimmt Michael Gira & Co. hierbei am fortwährenden Umherwandern und Erkunden.

Film-Noir-Soundtrack, Ragtime-Jazz, Doom, No Wave, Southern Rock und Gothic werden hier durch die Soundmaschine gejagt, und Giras klappriger Bariton ist so träge und schleppend wie eh und je, und als eine Kombination aus eindringlichem Erzähler und Vorbote des Untergangs zieht sich sein charakteristisches, unheilvolles Geschrei durch die scheinbar endlosen Lieder.

´The Beggar´ trägt jedenfalls mehr als jeder seiner Vorgänger ein Herz auf dem Ärmel, und im reifen Alter von 69 Jahren wandelt sich Giras Beschäftigung mit dem Tod stetig vom Tagtraum zur Realität – seine existentielle Abrechnung wird eingesetzt, um ein relativ zusammenhängendes Ganzes zu erschaffen, und die daraus resultierende Flut an Musik ist einfach mal wieder überwältigend und einfach nur fantastisch!

 

THE COLD STARES – Voices

(von Harald Pfeiffer)

Viele ordentliche bis gute Veröffentlichungen habe ich im ersten Halbjahr registriert. Aber die richtig herausragenden Platten waren rar.

THE COLD STARES sind (inzwischen) drei coole Typen, die als klassisches Power Trio mit ihrem sechsten Album ´Voices´ einen richtigen musikalischen Höhepunkt beigesteuert haben. Kraft und Melodie hat kaum eine Band dieses Jahr so gut kombiniert wie THE COLD STARES. Und dazu sind die Songs bei aller Tiefsinnigkeit und technischen Finesse teilweise von einer beängstigenden Eingängigkeit. THE COLD STARES führen damit das Erbe von Bands wie THE CREAM oder FREE fort. Dass, was sie von vielen anderen Veröffentlichungen unterscheidet, ist, dass sie keine Epigonen sind, sondern ihren eigenen Stil des Blues Rock konsequent entwickelt haben und weiterverfolgen.

 

OBLIVION FL – The Executioner

(von Jürgen Tschamler)

Eine gelungene Reunion der Florida Band! US Power Metal Supreme, der den geneigten Fan komplett umbläst. Sicher, mit dem Material aus den Achtzigern haben die aktuellen Tracks nicht mehr viel am Hut, aber dafür klingen sie einmalig und unverwechselbar. Ruppig, roh, unverwässert – US Power Metal in mehrheitlichem Mid-Tempo geliefert, entzückt durchgehend. Fans von alten HELSTAR, LIEGE LORD, SAVATAGE und Co. kommen hier voll auf ihre Kosten. Ein solches Comeback konnte man einfach nicht erwarten, aber solche Überraschungen sind doch hocherfreulich. Geiler Gesang, ultrafette Riffs, voluminöse Produktion – mehr Power Metal kannst du nicht auf Platte pressen!

 

HEINZ RUDOLF KUNZE – Können vor Lachen

(von Michael Haifl)

Schöne Musikscheiben stehen nicht lange am Wegesrand, im Plattenladen oder verstauben im eigenen Plattenregal. Das 39. Werk von HEINZ RUDOLF KUNZE dürfte sich der Deutsch-Rock-Kenner ohnehin in kürzester Zeit als Vinyl in das heimische Regal stellen und es in diesen schizophrenen Tagen der Gegenwart andauernd auf den Plattenteller legen. Der wortgewandte Sänger wirbelt korrekterweise einige Protagonisten des politischen Zeitgeschehens durch seine Schüttelreime, wagt sich dabei allerdings nicht nur einen aktuellen Krieg anzusprechen, sondern hält der Innenpolitik dieses Landes den gewienerten Spiegel vor die Fratze. „Wir wissen nicht wer uns regiert und überhaupt warum“, ist dabei noch die einhelligste Äußerung. HEINZ RUDOLF KUNZE wagt sich als einer der wenigen Musiker, in diesen Zeiten eine eigene Meinung zu besitzen, ohne neben der blinden Masse herzulaufen und die übliche Propagandamaschine anzuwerfen.

 

 

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