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BLUT AUS NORD – Disharmonium – Undreamable Abysses

~ 2022 (Debemur Morti Productions) – Stil: Avant-Garde Metal ~


Irgendwann musste es soweit kommen, dass Vindsval sich komplett in die Welt dieses anderen Meisters des Phantasmisch-Kosmischen stürzt, und er tut es mit vollem Risiko und ohne Sicherungsseil (oder sollte man eher Sauerstoffschlauch sagen?). Also alles wie immer auf dem 14. Album in 28 Jahren? Teils, teils.

Mit der letzten Veröffentlichung, ´Hallocinogen´, sahen wir BLUT AUS NORD auf einem Weg hin zu mehr unangestrengter Hörbarkeit, ja sogar Harmonie und deutlich weniger Raserei, Dissonanz, Noise-Betonung und genereller Härte, verglichen mit ´Deus Salutis Meae´ oder der vorangegangenen krassen Schwarz-Weiß-Malerei der ´777´-Trilogie. Nichts Neues bei den Franzosen, die starke Kontraste so sehr lieben wie neue Herausforderungen, und von jeher ihre Marschrichtung von Platte zu Platte veränderten. Durch das neue Projekt YERÛŠELEM hat sich schon vor mehr als drei Jahren eine neue Abzweigung in Richtung Post Punk/Darkwave/Industrial ergeben, die daher nun in der Hauptband nicht weiter vertieft werden muss. Aber es ist auch kein neues ´Memoria Vetusta´-Black Metal-Kapitel geworden, dessen Anteil nimmt in Vindsvals Spätwerk sowieso kontinuierlich gegenüber den Elektronik-lastigen Spielarten ab.

Wohin geht die Reise diesmal? In einem seiner extrem seltenen Interviews hatte Vindsval schon vor zwei Jahren angekündigt, dass das nächste Album noch mehr die progressive Seite und den psychedelischen Ansatz erforschen werde. Ihm ist wichtig, die Verbindung von Musik zu Träumen, Empfindungen und Gefühlen sicherzustellen, und Rationalität ganz außen vorzulassen. „L’Art commence quand cesse le bruit des hommes”, Kunst beginnt wo der Lärm der Menschen endet.

Nun also hymnische Walgesänge aus Lovecraftschen Tiefen. ´Disharmonium – Undreamable Abysses´ kommt trotz seiner Komplexität und Detailtiefe erstaunlich gestrafft, ausgewogen dissonant und gleichzeitig gut hörbar rüber, man könnte es fast als BLUT AUS NORD easy listening bezeichnen, oft kommen innere Bilder eines persönlichen Cthulhu-Films auf, dessen Soundtrack dieses Album sein könnte. Die Songtitel sprechen für sich: ´Chants Of The Deep Ones´,´Tales Of The Old Dreamer´, ´That Cannot Be Dreamt´ oder ´The Apotheosis Of The Unnamable´- Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn, ok, aber wenn das so weitergeht, erwacht er demnächst…

Das Album startet in der abyssalen Tiefe, die ´Chants Of The Deep Ones´ beginnen dort mit einem fast Kinderlied-einfachen Motiv, aber schnell beginnen unaussprechlich verzerrte, alptraumhafte Laute in eine chorale Kakophonie einzustimmen, und jede Stimme, jeder der Großen Alten will sich darin vor den anderen behaupten. Ein Sternengesang bringt schließlich etwas Ordnung ins Chaos, und alles endet mit dem elektrischen Brummen und Vibrieren eines dicken Unterwasserkabels am Meeresboden.

Da ist aber auch die nie unterbrochene Verbindung in den Kosmos, die von den rasenden Drums wie ein hochkomplexes Morsesignal gehalten wird, über dem die durch eine ganze Serie von irren Effekten verfremdeten Gitarrenriffs und Keyboards ihre eigenen, verworrenen Geschichten erzählen. Die organische Schichtung und Vermischung all dieser Ebenen zu einem lebendigen, atmenden, seufzenden und bisweilen auch schreiend dissonanten Klangteppich ist Vindsval bisher nie so gut gelungen wie auf ´Disharmonium – Undreamable Abysses´, und auch wenn sich seine Stilmittel nicht oder nur minimal ändern, übt das Album einen hypnotischen Sog aus, der die Zeit verkürzt: sie geht viel schneller vorbei als in der realen Welt, und es gibt auch nach vielfachen Durchläufen ständig Neues zu entdecken in den diesmal zwischen sechs und sieben Minuten langen Stücken, die aufeinander aufbauen und bis zum Schlüsselsong ´That Cannot Be Dreamt´ die Spannung und parallel dazu den Irrsinn steigern. Entrückte Drones, unverständliches Gebrabbel, psychedelische Keyboardfolgen und darüber die typischen, wirbelnden Riffs – man kann froh sein, dass man sich zumindest am Schlagzeug orientieren kann, in diesen die Sinne überwältigenden Klangkaskaden, doch es wird nie beängstigend oder bedrohlich. Wir haben uns in unserem Schicksal eingerichtet, treiben auf den an- und abschwellenden Gezeiten, sehen Neptun in die Augen, werden in den Mahlstrom der Unendlichkeit gezogen, und erkennen mit dem letzten Lichtstrahl (die weit zurückblickenden letzten zweieinhalb Minuten von ´The Apotheosis Of The Unnamable´!!!) nur noch, dass die wirbelnden Galaxien am Nachthimmel nun sämtlich Tentakel und Saugnäpfe dazubekommen haben.

BLUT AUS NORD haben mit der Tradition gebrochen, stets ein stilistisch komplett anderes Album anschließen zu müssen, aber dafür eine extrem inspirierte neue Inkarnation gefunden.

Danke für diesen Trip, Vindsval!

(9 erwachende Große Alte)

 

 

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