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MADRUGADA – Chimes At Midnight

~ 2022 (Independent/Warner Music) – Stil: Rock ~


In den Nullerjahren gab es mit INTERPOL, EDITORS und THE NATIONAL düstere Strömungen im Indie Rock, doch die manischen Emotionen voller Melancholie und Dunkelheit stammten aus Skandinavien. Erst spielten die Norweger MIDNIGHT CHOIR ihren dunklen Americana mit Country-Einschlag, dann erschienen ihre Landsleute MADRUGADA auf der Bildfläche und faszinierten mit ihrem Alternative Rock, der mit Blues und Americana die komplette Tragweite nordischer Melancholie ausströmen ließ. Dazu erklang der Bariton von Sänger Sivert Høyem und bewies, dass MADRUGADA weit mehr waren als nur die Nachfahren von Leonard Cohen und Nick Cave. Doch als sie ihr fünftes und selbstbetiteltes Album 2007 vollenden und sich auf Tournee begeben wollten, starb Gitarrist Robert Burås. Konsequent beendeten sie nur die anstehende Tournee und lösten sich auf.

Erst 2019 fanden MADRUGADA zum 20-jährigen Jubiläum ihres Debüt-Klassikers ´Industrial Silence´ wieder auf der Bühne zusammen und wurden auf ihrer Comeback-Tournee durch Europa frenetisch gefeiert. Sänger Sivert Høyem, der in der Zwischenzeit als Solo-Künstler erfolgreich war, Bassist Frode Jacobsen und Schlagzeuger Jon Lauvland Pettersen, der 2002 ausgestiegen war, gingen mit der wiedergefundenen und äußerst adrenalingeschwängerten Energie umgehend in den Proberaum und nahmen sich anderthalb Monate Zeit, an Songmaterial zu feilen, das zu einem Drittel aus alten und zu zwei Dritteln aus brandneuen Ideen bestand. Sie schmirgelten im Proberaum in Oslo, im Studio „Velvet Recordings“ außerhalb der Stadt, im „Sunset Sound Studio“ in Los Angeles und verpassten dem Material in Berlin eine Woche lang den letzten Schliff. Dabei entsprang das Album ´Chimes At Midnight´, auf das die stetig wachsende Anhängerschaft der dereinst größten Formation Norwegens seit anderthalb Dekaden gewartet hat.

 

 

Insbesondere Musikliebhaber, die MADRUGADA am schmerzlichsten vermisst haben, werden sich jedoch an der düsteren Magie in einem ruhigeren Umfeld laben müssen, ganz gleich ob sie sich für einen Silberling entscheiden und vom Vinyl-Kauf aufgrund exorbitanter 47 Euro Abstand nehmen.

MADRUGADA sind besonnener und maßvoller geworden. Ihr Spiel lebt heutzutage im Spannungsfeld zwischen der gewohnten Dramatik eines sanften Tons, etwa des Openers ´Nobody Loves You Like I Do´ mit Klavier und Jazzbesen, und reichen Streicherarrangements wie in ´The World Could Be Falling Down´. Das überraschende Element früherer Jahre ist somit aus der Musik verbannt, vielleicht auch infolge des Verlustes von Songwriter/Gitarrist Robert Burås, der durch die Live-Mitmusiker Christer Knutsen (Gitarre, Piano) und Cato „Salsa“ Thomassen (Gitarre) ersetzt wird.

Die nordische Melancholie lebt allerdings weiterhin im Americana Rock auf, nicht nur mit ´Slowly Turns The Wheel´. Wehmütig schwelgen MADRUGADA in echter Schwermut, mit ´Running From The Love Of Your Life´ sogar im Fahrwasser von R.E.M. und von U2 mit ´Imagination´. Dagegen trifft im andächtigen ´Stabat Mater´ südländische Leichtigkeit auf skandinavische Fröhlichkeit, samt jaulenden Gitarrensaiten, deren Klang in ´Call My Name´ immerhin Erinnerungen an Robert Burås weckt.

In aller Seelenruhe genießen MADRUGADA die Langsamkeit. Wunderschön in der Americana-Ballade ´Help Yourself To Me´ oder ebenfalls bei der Single ´Dreams At Midnight´ zu erleben. Ein ´Empire Blues´ wagt sich gar auf Country-Terrain und ´You Promised To Wait For Me´ zeigt sich opulent in purer 60s-Singer-Songwriter-Schönheit, ehe die Klavier-Dramatik eines ´Ecstasy´ das bereits ans Herz gewachsene Werk beschließt.

(8,5 Punkte)

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Pic: Knut Aaserud