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CARCASS – Torn Arteries

~ 2021 (Nuclear Blast Records) – Stil: Kult-Death Metal ~


Herzallerliebst, dieses Cover! Wobei das Titelbild ja nur das erste einer Serie von Zeitraffer-Bildern des kompletten Zerfalls von zuvor kunstvoll als menschliches Herz drapiertem Gemüse ist, siehe hier; dahinter steht eine japanische Kunst, die sich Kusôzu nennt, „das Malen der neun Stadien eines verrottenden Leichnams“. Was könnte besser zu CARCASS passen, den Meistern der eigenwilligen klanglichen Verarbeitung nicht mehr ganz taufrischer Fleischabfälle humaner Herkunft?

Gleichzeitig könnte man darin natürlich auch eine Reminiszenz an ihr kommerziell erfolgreichstes Album sehen, sozusagen „Heartwork 2.1, Vegan Version“, mit seinem unnachahmlichen Groove und dieser unverkennbaren Melange aus kompromisslos geblastetem Death Metal, fiesem Growling, thrashy Metronom-Riffing, so komplexen wie eingängigen Songstrukturen und oberdrauf klassisch-britischen Gitarrenleads. Ohne viel vorwegzunehmen kann ich sagen: näher an dieser Über-Platte waren sie nie. Doch es wären nicht die Herren Walker & Steer, die sich mit jeder Platte stets weiterentwickeln müssen, wenn ´Torn Arteries´ nicht auch mit einigen Neuerungen aufwarten würde. Sonst würde es ja langweilig werden…

 

 

Grundlage der prosaischen, eben ehemals Grindcore-Welt der Briten war ja schon immer ihr Hang zu den eher posthumen Fachbereichen der Medizin und deren Werkzeugkasten, der sich durch ihr gesamtes Wirken zieht, bis hin zur Begrifflichkeit, die ihren sehr technischen Stil beschreibt: „wie mit dem Skalpell seziert“, „messerscharfe Riffs“, „präzises Gemetzel“, all das zeichnet die Merseysider seit jeher aus, und dass ihnen diese sonischen Obduktionen immer noch sehr viel Spaß bereitet, sieht man an den phantasievollen und schwarzhumorigen Titeln wie ´Eleanor Rigor Mortis´, ´Flesh Ripping Sonic Torment Limited´, dem Titelsong oder eben ´Under The Scalpel Blade´, das bereits 2020 als erste Single nach mehr als fünf Jahren Pause veröffentlicht wurde (wir erinnern uns: von 1996 bis 2007 lag die Band auf Eis, das Comebackalbum ´Surgical Steel´ erschien bereits 2013, gefolgt von diversen Singles, Splits und EPs). Der Song ist ein Lehrstück im perfekten Zusammenwirken von fiesen Vocals, komplexen Rhythmen, hochpräzisem, diesmal durchgehend sehr basslastigem Riffing und schrägen Melodien, die eine beklemmende Stimmung erzeugen, jedoch immer wieder vom irr-witzigen Refrain aufgebrochen werden, um mit ihrem Killergroove sofort die Hüften zu kitzeln. Doch dies ist ja nur ein Teil der Wahrheit, denn wer CARCASS auf ihre Grindcore- und klassischen Death Metal-Wurzeln reduziert, übersieht, was noch viel weiter in die Vergangenheit reicht. Für die Alterszielgruppe, die selbst die 80er erlebt hat, wird hier nämlich mehr denn je eine metallische Zeitreise par Excellence geboten, ohne dass der eigene Signature-Sound jemals verlassen würde. Und das allein ist schon eine Leistung, die nirgendwo anders als direkt in die Jahresendlisten führen muss…

Aber eins nach dem anderen. Mit dem Opener und Titelsong machen die Liverpooler klar, um was es hier immer noch geht, er ist ein highspeed drauflos geblasteter Brecher mit den üblichen hummelflugartigen Tonleitern und dem herausgekotzten Growlen beider Vokalisten, der sich jedoch unvermittelt zu Melodeath-Riffs und auch immer wieder zu kurzen Ausblicken in luftiger Post Rock-Atmosphäre weitet. Urplötzliche Tempowechsel, rhythmisches Stop-and-Go bei extremer Heavyness durchziehen das gesamte Album und machen es zu einem Heidenspaß, der nie langweilig wird.

Ohne groß drumherumzureden ist mein Favorit des Albums dann auch gleich ´Dance Of Ixtab (Psychopomp & Circumstance March No. 1 In B)´, siehe das Video, ein stampfendes, untypisch langsames Stück mit ultrafettem, megaheavy Riffing und orientalischen Vibes, das die Rückkehr der Twingitarren feiert, während es gleichzeitig in die Knie und zum Tanzen zwingt. Und bei dem Dan Wilding zeigt, dass er weit mehr als nur Ken Owens Nachlassverwalter ist, sondern mittlerweile integraler Teil der Band – einen saftigeren, muskulöseren Drumsound hat man lang nicht mehr gehört; ´Torn Arteries´ ist generell ein extrem perkussionsbetontes Album, die detailverliebten Briten verstecken hier so manches Schmankerl, von diversen Glocken beim Rausschmeißer ´The Scythe’s Remorseless Swing´ bis hin zum Klatschen mitten in ´In God We Trust´.

Noch so ein mitreis(s)endes Monster mit orientalischem Anklang, 70er Stromgitarrenfeeling und fast MASTODONschen Groove ist ´The Devil Rides Out´, da steigt man doch gern ein in den teuflischen Stang, der auch direkt zu einem GHOST-Konzert fahren könnte, auf dem ausschließlich 80er-Twinguitar-Covers gespielt werden. Mit umgedrehtem Kreuz dirigiert von einem dänischen König. Wie die Band selbst sagt, sind diese Midtempo-Songs absolut nichts Typisches, aber genau jene Art Neuerung, die „die Hardcore CARCASS-Fans von jedem neuen Album erwarten“. Wobei es der Neuigkeiten noch genügend andere gibt auf ´Torn Arteries´, gerade was die zum einen im Riffing wie immer messerscharfe, gleichzeitig extrem progressive und wandelbare Gitarrenarbeit von Bill Steer betrifft – sein Gitarrensound ist wohl der Hauptgrund, wieso man diese Band immer schon nach wenigen Takten erkennt. Hier spielt er sich nicht nur durch den eigenen evolutionären Backkatalog, garniert mit klassischen Thrashriffs, sondern glänzt auch wieder mit seinen typisch strahlenden und warm-bluesigen Soli, die Elemente aus den Hochzeiten von britischem 70ies Hardrock bis 80er Metal zu dem typischen CARCASS-Trademark-Sound verbinden – genre-, epochen- und stilübergreifend, aber immer schräg, progressiv und einfach anders, eine wahre Hörorgie für den Metalgormet.

´Torn Arteries´ ist dabei angelegt wie eine Achterbahnfahrt und wechselt von Song zu Song zwischen galoppierendem Geblaste und den neuen, runtergedrehten Tempi. Oft findet sich jedoch beides im selben Stück, wie beim von einer Akustikgitarre eingeleiten ´Flesh Ripping Sonic Torment Limited´, der Blaupause dessen, was CARCASS 2021 sind. Knapp zehn Minuten lang lotet das Powertrio hier aus, was alles an verrückten Ideen in nur einen Song gepackt werden kann. Und dass sich all diese so unterschiedlichen Elemente trotzdem zu einem natürlichen, runden Klangbild zusammenfügen, ist natürlich Jeff Walkers Verdienst, der zum einen die Maschinerie mit seinem sehr deutlich herausgearbeitetem Basssound zusammenhält, aber eben auch immer wieder neue, unerwartete Wendungen und gegenläufige Elemente einbaut, gnadenlos seine garstigen Lyrics ausspeit und diesen Hexenkessel am Brodeln hält. Und immer dann, wenn alles fast überkocht vor lauter hyperaktivem Irrwitz, legt Steer, der neben dem beinhart inszenierten Walker oft wie ein Hippie wirkt (aber trotzdem abartiger growlt als der Basser), ein paar schokoladig-schmelzende Leads über all das Chaos, und holt alle wieder zurück auf den blutgetränkten Boden der Prosektur, um für wenigstens ein paar Augenblicke Luft zu schnappen. Und sich dann wieder mitten in den Circlepit zu werfen. Und nochmal, und nochmal… bis einem nach dem x-ten Durchlauf wirklich die Puste ausgeht. Aber dafür morgen gleich wieder, denn diese Scheibe hat absolutes Suchtpotenzial!

CARCASS haben sich mit ´Torn Arteries´ nicht nur mit Verve auf dem Metal-Parkett zurückgemeldet, sondern sich selbst mit diesem reifen und trotzdem alterslosen Album die größte Freude gemacht. Der Spaß des Trios an seiner Musik ist jede einzelne Sekunde zu spüren, und macht das Ganze zu einem wahren Fest für Ohren und Herz. So kann es sehr gerne weitergehen! Aber bitte nicht erst wieder in acht Jahren…

(9 Punkte)

 

FFO: CARCASS, THIN LIZZY, CARCASS, ENTOMBED, CARCASS, MERCYFUL FATE, CARCASS, JUDAS PRIEST, CARCASS, GOJIRA, CARCASS, UFO, CARCASS…

 

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