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RAMMSTEIN – Zeit

~ 2022 (Universal) – Stil: Rammstein ~


 

RAMMSTEIN sind in den letzten drei Jahren seit ´Rammstein´ nachdenklicher und melancholischer geworden. Diese verschlissenen Jahren sind auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen und so stellt sich die ewige Frage, ob zumindest die ´Zeit´ alle Wunden heilt.

RAMMSTEIN tischen elf neue Kompositionen in dem Bewusstsein auf, dass die Zeit auf Erden nicht unendlich ist und obendrein ihre Kompositionsschablone nicht in gewohnter Art und Weise unendlich fortgeführt werden kann.

Die Marsch-Hymne ´Armee der Tristen´ zur Begrüßung und zur Einreihung in das folgende, wehmütige Schauspiel beschreiten RAMMSTEIN gemeinsam („Wir woll’n zusammen traurig sein.“) mit ihren frenetischen Anhängern zu frischen Riffs, die von Achtzigerjahre-Keys begleitet werden („Hand in Hand, nie mehr allein. Hand in Hand, kein Blick zurück. Komm, wir schließen unsre Reihen. Marschier’n im Gleichschritt gegen Glück.“). Die heraufbeschworene Gesellschaft in Angst und in Not währt fort.

Mit Klavierklängen stellen sich RAMMSTEIN zu diesem Zeitpunkt der Urproblematik, dem Leben und dem Sterben, kurzum der ´Zeit´ – mit Western-Gitarre und im Seemannsbrummen („Zeit – das soll immer so weitergeh’n. Zeit – es ist so schön, so schön.“). Die Dunkelheit übermannt oftmals das morbide Spiel, ohne angestammte Pfade zu verlassen. Die Stakkato-Riffs zünden gewiss häufig das einmalige RAMMSTEIN-Feuer, werden allerdings wiederholt im Beat von Keyboards überflutet.

Nacht oder Tag („Die kalte Nacht ist mir Vergnügen. Trink‘ das Schwarz in tiefen Zügen.“), dunkel oder hell, ´Schwarz´ oder weiß? RAMMSTEIN entscheiden sich mit dieser gothischen Metal-Hymne für Ersteres („Kein Gebet und keine Kerzen, heucheln Licht in unsre Herzen.“). Weniger nachdenklich in seinem Ansinnen ist der fidele Rave-Stampfer ´Giftig´ („Du bist giftig, ach so giftig.“). Dagegen stellt ´Zick Zack´ den zunehmenden Schönheitswahn („Schlauchboot basteln aus den Lippen. In die Wangen, in die Stirn. Botox rein bis ins Gehirn.“) einiger Mitmenschen in den Mittelpunkt und verkneift sich selbst den landläufigen Spruch „Wer schön sein will, der muss auch leiden“ nicht („Zick-zack, zick-zack, schneid es ab.“). Geht es bei Schönheitsoperationen schlicht um das Anbahnen von Geschlechtsverkehr, haben RAMMSTEIN passenderweise sogleich den stählernen Brecher namens ´OK´ im Säckel. Der schlichte Refrain verpfeift recht zügig den Titel als Abkürzung von „Ohne Kondom“.

Die Melancholie tritt auf Schritt und Tritt nochmals bei der Thematisierung von häuslicher Gewalt in ´Meine Tränen´ („Ein Mann weint nur, wenn seine Mutter stirbt.“) samt mitsingbarem Gitarrensolo zutage und die fetten Riffs positionieren sich abermals in ´Angst´, in dem die Angst vor dem Schwarzen Mann auf jegliche Fremdenfeindlichkeit versinnbildlicht wird. Zu dieser Volkstümelei passen entsprechende Klänge („Ich bin auch gar nicht anspruchsvoll. Ich bin auch gar nicht wählerisch.“) zu Beginn des massiven Volk-Rockers ´Dicke Titten´ („Sie muss nicht schön sein. Sie muss nicht klug sein, nein, sie muss nicht reich sein. Kein Modell mit langen Schritten, doch dicken Titten.“). Die perlenden Klänge der dramatisch steigerungsfähigen Ode an die ´Lügen´ werden anschließend sogar unversehens mit Vocoder-Sprechgesang unterlegt.

Schließlich findet jedes Album seinen Ausklang, so wie jedes Leben einmal zu Ende geht, mit dem letzten Gang von Leben zu Tod. Resümierend wirft derzeit die ´Zeit´ nur Hymnen und Massenfestgesänge ab, allein eine Überkomposition wie ´Deutschland´ fehlt. Ob sich RAMMSTEIN allerdings mit ´Adieu´ höchstpersönlich verabschieden möchten, bleibt abzuwarten: „Adieu, Goodbye, auf Wiedersehen. Den letzten Weg musst du alleine gehen. Ein letztes Lied, ein letzter Kuss. Kein Wunder wird geschehen. Adieu, Goodbye, auf Wiedersehen.“

 

Michael Haifl

 

 

 

 

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

In Zeiten, in denen jeder Einzelne zwischen geschürten und allzu realen Ängsten seine kurze Zeit fristen muss, ist ein Werk wie ´Zeit´ von den ersten Klängen und Texten vom Opener ´Armee der Tristen´ an eine wahre Befreiung, gar eine Art Erlösung gegen den exponierten Hang zum Jammern der (noch) Wohlstandsgesellschaft in gewohnt sarkastischer Weise:

Depressiv, betrübt, zerschlagen
Sollten wir zusammen verzagen
Deprimiert und melancholisch
Pessimistisch, diabolisch
Gründen auf verblühten Rosen
Die Partei der Hoffnungslosen
Werde Mitglied, trete ein
Jeder darf es sein, herein!

Sie sind wieder da, die Feingeister der brachialen Poesie für zarte und harte Freunde mit einem Hang zu Herzeleid. Nicht nur schöner, größer, härter, straffer, glatter und stärker – sondern zunächst nach drei Jahren weitaus früher als erwartet geht die Reise, Reise weiter – wenn man der Sehnsucht in der 10-jährigen aus-Zeit zwischen ´Liebe ist für alle da´ und dem hell wiederentfachten Zündholz der selbstbetitelten Streichholzpackung gedenkt.

Unabhängig von der eigenen Neigung für ihre Musik muss man dieser in unsteten Zeiten doch recht treuen, musikalischen Männer-WG Respekt zollen, in einer unveränderten Besetzung allen anfänglichen Unkenrufen zum Trotz wie ein Fels in der Brandung oder ein fest zementierter RAMMSTEIN immer noch da zu sein – verändert, doch sich selbst und seinen Freunden treu.

Ja, den Herren wohnt mittlerweile eine gewisse Melancholie inne, welche drei der für mich persönlich besten Lieder der gesamten Werkschau ihrer bereits 28-jährigen Kometenkarriere eindrucksvoll in die Gehörgänge pressen und zwischen den Zeilen sogar positive, besinnliche Botschaften verkünden, wie zum Beispiel sich an die guten Zeiten zu erinnern und sie festzuhalten:

Zeit
Bitte, bleib stehen, bleib stehen
Zeit
Das soll immer so weitergehen
Zeit
Es ist so schön, so schön
Ein jeder kennt
Den perfekten Moment

Das Thema ´Zeit´ inklusive einem der filigransten Videos aller Zeiten konfrontiert einen jeden mit der eigenen Vergänglichkeit; sie zieht sich weiterhin wie ein roter Faden durch das gleichnamige Album. ´Meine Tränen´ beschwören unabhängig von der „lieblosen-Mutter-Geschichte“ bereits das Gefühl im Moment des Loslassens, was sich zum Abschied mit ´Adieu´ in einen kraftvollen Opus steigert, der wohl in Zukunft nicht nur auf einer Beerdigung gespielt werden wird.

Ebenso sentimental und introvertiert gibt sich ´Schwarz´ als neue Hymne für Gothic-affine Geister, während sich jeder auf seine Weise der allgegenwärtigen ´Angst´ stellen muss ohne ihr ohnmächtig zu verfallen und sich in ein tiefes Loch zu verkriechen, denn jeder Mensch sollte seine Zeit nutzen und mit allen Mitteln versuchen, dagegen anzukämpfen. Die Entscheidung, was Wahrheit ist oder ´Lügen´ kann und muss jeder dabei für sich selbst entscheiden.

Doch natürlich wären RAMMSTEIN nicht RAMMSTEIN, wenn sie nicht jedem politisch unkorrrrrrekt gediegenen Geiste ein Lächeln ins Gesicht zaubern würden mit von rosenrot angelaufenen Neidern höchstwahrscheinlich von jeher als „platt“ und „proletenhaft“ betitelten Stücken wie ´OK´ (ohne Kondom) oder ´Dicke Titten´ im volkstümlichen Trachtengewand fest geschnürt und präsentiert. Liebe ist für alle da und ich liebe es!

Die ´Giftig´-en, urtypischen Stakkato-Riffs voller Kompromisslosigkeit, die RAMMSTEIN auch diesmal ´Zick Zack´ versprühen, kommen hart und direkt in die Venen, niemand sonst kann Gesellschaftskritik über den von verblassenden Prominenten auf ihre Nachfolger und solche, die es werden wollen projezierten Schönheitswahn so bitterböse lustig in klare Worte als auch Bilder fassen.

Die Reise, Reise der Berliner geht also ohne Einreisebeschränkungen weiter und wer mit RAMMSTEIN noch nie was anfangen konnte, wird auch diesmal nicht in Verzückung geraten. Die ´Armee der Tristen´ ist abermals mehr als beglückt und kann sich wie in der Vergangenheit gar Trost, Hoffnung und Stärke für die ungewisse Zukunft aus der brachialen Poesie ziehen.

Am Ende bist du ganz allein
Doch wir werden bei dir sein

Adieu, goodbye, auf Wiederseh’n
Den letzten Weg musst du alleine geh’n
Ein letztes Lied, ein letzter Kuss
Kein Wunder wird gescheh’n
Adieu, goodbye, auf Wiederseh’n
Die Zeit mit dir war schön.

 

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