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PAUL McCARTNEY – McCartney I

~ 1970/2022 (Capitol Records) – Stil: Rock ~


Home-Recording-Sessions I.

Mit seinem ersten, gänzlich in Eigenregie eingespielten Solo-Album (´McCartney´, 1970) verarbeitete Paul McCartney die Trennung der BEATLES, obwohl ihm vorgeworfen wurde, diese mit seinem Solo-Werk herbeizuführen. Die Vier-Spur-Aufnahmen aus dem Winter 1969/70 feierte man jedoch einige Zeit später als Vorreiter des Do-It-Yourself-Prinzips. Gleichwohl war das minimalistisch eingespielte ´McCartney´ der völlige Gegensatz zu den noch zuvor bejubelten Bandaufnahmen mit den BEATLES.

Mit seinen zweiten Home-Recordings (´McCartney II´, 1980) zog er zehn Jahre später einen weiteren Schlussstrich. Kurz vor der Auflösung von McCartneys Rock-Formation WINGS erschien sein nächstes vollumfängliches Solo-Album. Paul McCartney wurde vom Stadion-Rocker zum Electronica-Nerd, da auf dem Album experimentelle Klänge und Electronica überwogen.

Insbesondere die Experimentierfreudigkeit lieben noch heute unzählige Menschen abseits der BEATLES an den Solo-Werken von Sir Paul McCartney. Ungeplant kam es daher 2020 zur dritten Wohnzimmerproduktion (´McCartney III´, 2020). 40 Jahre nach den letzten veröffentlichten Home-Recording-Sessions ließ sich Paul McCartney abermals nicht von Musiktrends leiten, spielte konsequenterweise wieder alle Instrumente selbst ein und übernahm gleichsam die Produktion.

 

Im Jahre 1970 beherrschte allerdings noch eine weitaus unsichere und angespanntere Lage die gekränkte Stimmung im Lager der BEATLES. Das von Phil Spector endlich vollendete Fab Four-Album ´Let It Be´ sollte veröffentlicht werden, doch Ringo Starr hatte sein Soloalbum ´Sentimental Journey´ bereits fix und fertig, während Paul McCartney zwar seine Solo-Scheibe noch nicht komplettiert hatte, allerdings auf den von ihm vorgesehenen Veröffentlichungstermin 17. April 1970 pochte. McCartney sah sich unterdessen bei den BEATLES in der Opferrolle, seit er allein der Entscheidung des neuen Managers nicht zugestimmt hatte, und setzte seinen Termin durch. Ringo Starr veröffentlichte sein Werk noch im März und das BEATLES-Album wurde auf Mai verschoben.

Für Paul McCartney schien ´McCartney I´ der einzige Ausweg, den albtraumhaften Streitfragen mit den anderen BEATLES und Manager Allen Klein zu entkommen. Er gründete unterdessen mit seiner Ehefrau Linda eine Familie und schrieb seit Weihnachten 1969 auf die einfachste Weise, wie zuletzt mit seinen alten Kameraden, neue Lieder, die erst im Laufe der folgenden Monate zu ureigenen Paul McCartney-Liedern wurden.

 

 

Ohne Mischpult nahm er in seinem Wohnzimmer mit einem Vierspurtonbandgerät von „Studer“ sämtliche Instrumente – Bass, Schlagzeug, Gitarre, Klavier, Mellotron, Xylophone, Pfeil und Bogen – auf und sang dazu. Seine Ehefrau Linda McCartney gesellte sich zudem bei einigen Liedern im Hintergrund dazu. Auf diese Weise nahm er drei Gesangs- und drei Instrumentalstücke auf. Weitere drei plus eins Lieder wurden erst in den „Morgan Studios“, Willesden, fertiggestellt. Dort entstanden vom 10. bis 12. Februar 1970 noch zwei Instrumentalstücke sowie erste Stereoabmischungen, nachdem er seine Vierspuraufnahmen auf die dortigen Achtspurgeräte übertragen hatte. Noch im selben Monat stellte er alle Lieder im, unter dem Pseudonym „Billy Martin“ gebuchten „Studio 2“ der „Abbey Road Studios“ fertig und nahm drei weitere Lieder auf. Das finale Mischen erfolgte am 23. März 1970 in „Studio 3“ der „Abbey Road Studios“.

Bereits das Gatefoldcover verkündete in einem Rausch von Familienschnappschüssen die Glückseligkeit, in der Paul mit seiner Frau (vermeintlich) lebte und dieses Album aufnahm.

 

 

Die riesige Publicity um die Veröffentlichung des Album trug diesen Frohsinn allerdings etwas zu dick auf.

Bildlich gesprochen, mit Blumen im Haar und Linda im Kopf, beginnt Paul McCartney Weihnachten 1969 das erste Lied für dieses Album aufzunehmen. Für das Lied ´The Lovely Linda´ reichen zu Beginn Akustikgitarre und nette Handpercussions sowie etwas „La-la-la-la“ aus. In immer dieselbe Richtungen geht hernach ´That Would Be Something´. Unablässig wiederholt es, dass es doch etwas wäre, „um dich im Regen zu treffen, Mama“. Dagegen ist das Instrumental ´Valentine Day´ schlicht eine riffige und improvisierte Blues-Jam.

Der erste Mehrheitsfinder namens ´Every Night´ klingt nach Südfrankreich, wurde allerdings 1969 bei einem Urlaub in Griechenland komponiert und schon einmal mit den BEATLES bei den ´Get Back´-Sessions unfertig aufgenommen. Der Song profitiert natürlich von den heimischen Aufnahmen in den „Abbey Road Studios“. Das sich anschließende ´Hot As Sun/Glasses´ lädt ebenfalls zum Flanieren ein und wurde von Paul McCartney bereits 1959 in einem polynesischen Jam entwickelt, während sich an ´Glasses´ noch ein Ausschnitt des Liedes ´Suicide´ anschließt. ´Suicide´ selbst, aus den ´Get-Back´-Sessions, wird erst 2011 offiziell veröffentlicht und wurde dereinst Frank Sinatra angeboten, von diesem allerdings ausgeschlagen.

Ohne auch nur ansatzweise die Werke der BEATLES übertreffen zu wollen, spielt McCartney schlicht, einfach und unkompliziert auf. Diese Sammlung ist nur existent, um seinem Erschaffer und dem Zuhörer Freude zu bereiten. Und obwohl er unglaubliche fünf Instrumentals auf der Platte verteilt, ist keine erhoffte mächtige Basslinie oder ein wunderbares Klavierspiel von ihm zu vernehmen.

Jaulend und lamentierend zeigt sich ´Junk´, entstanden 1968 in Indien und während der ´The White Album´-Sessions als Demoversion aufgenommen, mit einigen Xylophonen im letzten Vers. Seine instrumentale Version mit Mellotron folgt später in dem Song ´Singalong Junk´. Sogar ´Teddy Boy´ entstand 1968 in Indien und findet seine Bestimmung erst auf diesem Solo-Werk bzw. in der BEATLES-Demofassung auf ´Anthology 3´.

Der Song ´Oo You´ existiert zudem unter dem Titel ´Don’t Cry Baby´ auch als dereinst unveröffentlichte Instrumental-Version. Als echter Surfer gibt sich McCartney hingegen im instrumentalen ´Momma Miss America´ und inspiriert von dem indigen Volk der Kreen-Akror bildet das instrumentale ´Kreen-Akrore´ mit seinen Schlagzeug- und percussiven Effekten den Abschluss des ungewöhnlichen Werkes.

Als letztes Stück für das Album aufgenommen, erweist sich ´Man We Was Lonely´ mit seiner Melodie und seiner elektrischen Gitarre als einer der Höhepunkte. Ganz auf alter Qualitätsebene wandelt ebenfalls das Highlight ´Maybe I’m Amazed´ und lässt auch endlich den Rock herausfegen. Die Aufnahmen in den heimischen „Abbey Road Studios“ tun ihr Übriges.

Womöglich ist ´McCartney´ einzig und allein der Versuch, mit dem Klischee des anständigen und niemals ruchlosen McCartney aufzuräumen. Denn Paul war schon immer derjenige, der sich für Kunst und experimentelle Kultur interessierte, und er war der Erste von den berühmten Vieren, der daran Gefallen fand.

 

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