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PAUL McCARTNEY – McCartney II

~ 1980/2022 (Capitol Records) – Stil: Electronica/Rock ~


Home-Recording-Sessions II.

Zu Beginn der Siebzigerjahre erfand sich Paul McCartney neu. Mit einem Vier-Spur-Aufnahmegerät nahm er seit dem Winter 1969/70 in minimalistischer Art sein erstes, gänzlich in Eigenregie komponiertes und eingespielten Solo-Album (´McCartney´, 1970) auf. Er verarbeitete auf diese Weise die sich abzeichnende Trennung der BEATLES, obwohl ihm angelastet wurde, diese mit diesem Werk zu forcieren. Im Nachhinein wurde er jedoch als Vorreiter des Do-It-Yourself-Prinzips gefeiert.

Zehn Jahre später kam es zu weiteren, seinen zweiten Home-Recordings (´McCartney II´, 1980). Zu diesem Zeitpunkt stand zufälligerweise ebenfalls eine Trennung im Raum, denn die von McCartneys Rock-Formation WINGS stand kurz bevor, obwohl sie von 1971 bis 1981 zum erfolgreichsten Projekt eines ehemaligen BEATLE wurde, mit allein zwölf Top-Ten-Singles in Großbritannien, und aus ihm, seiner ersten Ehefrau Linda McCartney und Denny Laine sowie weiteren Mitstreitern bestand. Sein Solo-Album wurde im Gegensatz zum Stadion-Rock der WINGS zu einem Experimentierfeld samt Electronica-Klängen.

Speziell diese Experimentierfreudigkeit schätzen die Menschen abseits der BEATLES bis heute an den Alleingängen von Sir Paul McCartney. Die dritte Wohnzimmerproduktion (´McCartney III´, 2020) erschien dennoch 40 Jahre nach den letzten veröffentlichten Home-Recording-Sessions gänzlich überraschend und auch ungeplant. Zum vorerst letzten Mal spielte Paul McCartney wieder alle Instrumente selbst ein und übernahm zudem die Produktion der Kompositionen abseits jeglicher angesagter Musiktrends.

 

Paul McCartney war seit seinem letzten Besuch mit den BEATLES im Jahre 1966 nicht mehr in Japan gewesen. Wegen des Besitzes von Marihuana aus früheren Verhaftungen wurde ihm jahrelang ein Visum verweigert. Doch am 16. Januar 1980 konnte er endlich mit den WINGS einreisen und sich auf eine ausverkaufte Tournee freuen. Tragischerweise, oder besser gesagt dummerweise, wurde bei seiner Ankunft im Gepäck abermals Marihuana entdeckt, so dass er erst einmal einen neuntägigen Gefängnisaufenthalt genießen durfte, ehe es ohne Konzertauftritt wieder in die Heimat ging. Dort nahm er die Veröffentlichung seiner 1979 aufgenommenen Home-Sessions in Angriff und legte die WINGS auf Eis.

 

 

Seine zweiten Home-Recordings vollzog Paul McCartney im Juli 1979 in East Sussex und auf seiner Farm in Schottland. Nach der Veröffentlichung des WINGS-Werkes ´Back To The Egg´ im Juni 1979 zog er sich zu diesen berühmten Sessions in die Abgeschiedenheit seines Bauernhauses zurück. Letztlich nahm er mit einer gemieteten Studer 16-Spur-Bandmaschine über 20 Songs auf, über deren Veröffentlichung er erst nach der Wiederkehr aus Japan nachdachte. Am Ende landeten nur elf Songs auf dem Release. Ein geplantes Doppelalbum mit 18 oder 19 Songs wurde von der Plattenfirma abgelehnt.

Paul McCartneys Ausrüstung war hochmodern, er hatte nicht nur neue Synthesizer und Sequenzer bei sich, um zu komponieren, aufzunehmen und zu produzieren, er wollte wieder Spaß haben und ein paar lustige Songs aufnehmen, wie er die Home-Recordings umschrieb, mit vielen lustigen Synthesizern. Somit gab der Ex-BEATLE seiner Zuhörerschaft überraschenderweise einen Vorgeschmack auf den Synth-Pop der Achtzigerjahre.

 

 

 

´Coming Up´ ist zwar neben ´Waterfalls´ und ´One Of These Days´ einer der Songs, der annähernd Querverweise zur Vergangenheit, zu den BEATLES legt, allerdings mit dem durch die Echo-Maschine gepusteten Gesang und dem TALKING HEADS-Funkrock erst einmal für offene Münder sorgt. Mit ´Temporary Secretary´ legt Paul McCartney allerdings gleich nochmal nach. Synthesizer und Elektronik bestimmen das enervierende Soundbild, das mit KRAFTWERK’scher Elektronik und SPARKS’schem Gesang einen künftigen Synth-Pop-Klassiker heraufbeschwört. Bei Paul McCartney ist 1980 die Zukunft der Pop-Musik zu hören.

Die B-Seite der Single-Veröffentlichung von ´Temporary Secretary´ besitzt sogar mit dem Electronica-Experiment ´Secret Friend´ und seinen zehneinhalb Minuten den längsten Paul McCartney-Solo-Song. Die Zukunft ist tatsächlich ganz real im instrumentalen ´Front Parlou´ mit Synthesizer und Drum-Computer zu hören, aufgenommen in der vorderen Stube des Bauernhauses. Das gleichfalls instrumentale ´Frozen Jap´ klatscht im weiteren Verlauf dann ebenso ganz leger über den Dancefloor.

Dagegen tönt ´On The Way´ nach einem entspannten Blues, den McCartney im Sinne eines Alexis Korner vorlegt, ehe das fantastische und sentimental tragende ´Waterfalls´ mit E-Piano und Streicher-Synthesizern garantiert alle Herzen bricht. Der Blues-Stampfer ´Nobody Knows´ versucht zumindest 1980, die Fünfzigerjahre neu zu erfinden, und könnte ebenso den ´White Album´-Sessions entstammen.

Die dunkle Seite der Seele zieht der ´Darkroom´ mit flippigen und zappelnden Synthesizern auf die Tanzfläche und ist seit 1980 für alle Hipster ein zeitloses Meisterstück. Der ´Summer’s Day Song´ zeigt sich leichtfüßig und klassisch als angehende Hymne und der Track ´Bogey Music´ als Boogie-Boogie, der vom Kinderbuch „Fungus, der Bogeymann“ inspiriert ist. Schließlich folgt noch das etwas folkige ´One Of These Days´, das zum Ende des Werkes bis in alle Ewigkeit strahlt. Ganz gleich, ob Sir Paul direkt vor dem Komponieren einige Worte mit einem Hare Krishna-Gesellen gewechselt oder eine Tüte Marihuana geraucht hatte.

Immerhin entwarf Paul McCartney in diesen Jahren für sich und seine Nachahmer auf seiner Farm in Schottland obendrein einen minimalistischen Lebensstil, als Pferdezüchter und Gemüsebauer. Aber wie alle Asketen und Prediger der Bescheidenheit gönnte er seinen Pferden unter der Koppel sogar Heizstäbe und ließ sich selbst auch gerne eine Pizza aus New York einfliegen (!) …

 

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