PlattenkritikenPressfrisch

LOTUS THIEF – Oresteia

~ 2020 (Prophecy Productions) – Stil: Avant-Garde Metal ~


Im Oktober-Kompass 2019 hatte ich BOTANISTs famose jüngste LP ´Ecosystem´ besprochen, doch LOTUS THIEF, musikalisches Kind der BOTANIST-Gründer Bezaelith und Otrebor, verlangt doch nach mehr Worten als die bereits lange im Untergrund etablierten „Green Metal“ler. Auch wenn beide Bands naturgemäss nur ein Nischenpublikum ansprechen, wage ich zu prophezeien, dass sich die deutlich eingängigeren LOTUS THIEF mit ihrer dritten LP ´Oresteia´ den deutlich grösseren Hörerkreis erschliessen werden. Und sind wir gerade bei Prophezeihungen, bietet es sich zum einen an, das Quintett aus San Francisco als typische „Prophecy-Band“ einzuordnen, mit dem für das Label zentralen Fokus auf Atmosphäre, stilistischer Eigenständigkeit und dem Überschreiten von Genregrenzen; und zum anderen macht es hier Sinn, auf die thematischen Inhalte ihrer Musik einzugehen.

Selbst bezeichnen die beiden Multiinstrumentalisten ihren Stil als „Text Metal“, da sie stets uralte bis antike Texte mit Bezug auf ewige und damit auch heute aktuelle Menschheitsthemen vertonen, damit der Mensch aus seiner Geschichte lernt: „Ancient words resurrected in song“. Diesmal ist es Aischylos’ Orestie, uraufgeführt in Athen 458 vor Christus. Die einzige erhaltene Trilogie von griechischen Tragödien über den Teufelskreis von Gewalt, Ehre, Mord und Blutrache im Hause Atreus (in der auch die Prophetin Kassandra gwaltsam zu Tode kommt) gilt als eines der bedeutendsten Werke des damaligen Theaters, und hat auch heute nichts von seiner Aktualität verloren – die Geschichte endet schliesslich in einem Prozess, bei dem Pallas Athene erstmals ein Gericht als Vertretung der Bürgerschaft über Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld des Angeklagten Orest entscheiden lässt, anstatt das Prinzip der individuellen Rache fortzusetzen. Auch heute, in einer Zeit, in der gefühlt jeder ein besserer Richter ist als die Vertreter der Judikative, und die Option auf Selbstjustiz von konservativen Kräften wieder ins Spiel gebracht wird, ist dies eine Geschichte, die uns zu denken geben sollte, und so lohnt es sich, den Lyrics zu lauschen, die Fragen von der Ethik des Tötens bis hin zu Geschlechterrollen aufwerfen.

 

 

Gegründet 2012, die erste Single ´Nymphaea Carulea´ noch erschienen im BOTANIST/Allies ´Doom In Bloom´-Split-Album, ist die Band mittlerweile zum Quintett mit zusätzlich zum gewohnten Rockinstrumentarium insgesamt drei Gitarren, einer Violine und diversen Sythesizern angewachsen. Verharrte die erste Platte ´Rervm´ (2014, Svart Records) noch deutlich in den musikalischen Strukturen von BOTANIST, gerade auch was die Instrumentation angeht, haben sich LOTUS THIEF mit ihrem Prophecy-Debüt ´Gramarye´ (2016) komplett stilistisch freigeschwommen und nun mit ´Oresteia´ ihren ureigenen Sound etabliert, was sicherlich auch am Input der neuen Bandmitglieder, aus ganz verschiedenen Stilrichtungen kommend, geschuldet ist.

Was jedoch absolut hervorsticht ist der kraftvolle und doch sanfte Gesang Bezaeliths; sie besitzt eine absolut begeisternde, so klare wie rauchig-tiefe Stimme, ungefähr wie Chrissie Hynde ohne Vibrato – und diese ist auf jeden Fall das Pfund, mit dem die Band heutzutage aus gutem Grund wuchert. Bezaelith ist nun die eigentliche Erzählerin geworden, während die anderen Bandmitglieder nur noch stark dosiert wenn thematisch passend Black Metal-Growls und Schreie beisteuern. Damit wird die Platte auch für jegliche Gegner harscher Vocals interessant, egal ob sie aus dem Prog- oder Doommetal kommen, oder Post-Rocker und Fans von atmosphärisch stark aufgeladenen Bands wie ALCEST oder NEGURA BUNGET sind, mit denen LOTUS THIEF die sehr starken Dynamikwechsel und den Spannungsaufbau gemeinsam haben. Auch Fans von Space (Black-) Metal finden sich in den weiten, hellen, oft stark verhallten Klängen wieder, und generell sollte jeder mit offenen Ohren für grenzüberschreitenden Metal hier fündig werden – Suchtgefahr nicht ausgeschlossen!

Die acht Titel teilen sich jeweils in längere Songs und dazwischen reine Ambient-Interludien auf, so dass diese Scheibe eine wunderbare Ruhe, Intensität und Tiefe ausstrahlt, und genügend Zeit zum Nachdenken und -fühlen gibt. Eine Ausnahme in unserer effektüberfrachteten Welt und eine absolut runde Sache, die sicherlich einer der ersten Geheimtipps diesen Jahres ist! Einziger und ganz individueller Kritikpunkt: das Ganze hätte für meinen Geschmack noch deutlich länger so weitergehen können.

“There is a cure in the house,
and not outside it, no,
not from others but from them,
their bloody strife.
We sing to you,
dark gods beneath the earth.”

Aeschylus

(8,5 Punkte)

https://www.lotusthief.com

https://lotusthief.bandcamp.com/

https://www.facebook.com/LotusThief/

(VÖ: 10.01.2020)