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FAUST – 1971-1974

~ 2021 (bureau b records) – Stil: Krautrock ~


FAUST sind ein Mythos, sind eine Legende, FAUST sind Kult. Sie erhielten bereits für die Produktion ihres Debüt-Albums das modernste Studio und entsprechende Toningenieure zur Seite gestellt. Ein gehöriger Zuschuss zum vogelfreien Bestreiten des Lebensunterhaltes gehörte ebenfalls dazu. Zwar begann auch ihre Geschichte in einem alten Schulhaus in der Ortschaft Wümme bei Bremen, doch das dortige Klassenzimmer verwandelte ihre Plattenfirma in ein 1971er High-Tech-Studio. Andere Krautrocker lebten und musizierten hingegen Zeit ihres Lebens auf abgeschiedenen Bauernhöfen und mussten sich zumeist ihr Einkommen härter erarbeiten.

Dennoch konnten die kolossalen Erwartungen, die von Label-Seite in FAUST gesetzt wurden, nicht erfüllt werden. Ihre Plattenfirma „Polydor“ beendete die Beziehung nach zwei Langspielplatten (´Faust´, ´So Far´). Doch in England waren FAUST bereits ein Name, denn Radio-DJ John Peel spielte fortwährend ihre Scheiben und empfahl sie an das junge Label „Virgin“, das zum Auftakt der Zusammenarbeit alte Sound-Collagen und -Schnipsel aus Wümme-Tagen zum Single-Preis veröffentlichte (´The Faust Tapes´). Nach wenigen Wochen waren 100.000 Einheiten verkauft. Dieser ungewöhnliche, aber nachhaltige Chart-Einstieg in Großbritannien schoss bis auf Platz neun.

 

 

FAUST standen von Beginn an für das Ungewöhnliche. FAUST nutzten das Studio als Medium. FAUST generierten Lärm und Geräusche, Collagen und Sounds, Krach und Elektronik, gerne in Dauerschleife. So wie alle Krautrock-Legenden und -Begründer, seien es CAN oder NEU!, seien es AMON DÜÜL, ASH RA TEMPEL oder POPOP VUH, seien es KRAFTWERK oder TANGERINE DREAM, gingen sie bewusst den entgegengesetzten Weg der britischen und US-amerikanischen Musikerkollegen und fanden vor allem in Großbritannien unter dem Oberbegriff Krautrock bald weltweit Beachtung. FAUST! Eine Gruppe, ein Genre! Und das Eröffnungsstück von ´Faust IV´ verpasste all dem seinen Namen: ´Krautrock´!

 

 

Der einstige Musikjournalist und Produzent Uwe Nettelbeck vermittelte FAUST den Plattenvertrag. Unter diesem schlagkräftigen, oder auch liebestragödiesken Gruppennamen fanden Jean-Hervé Péron, Rudolf Sosna und Gunther Wüsthoff von der Gruppe NUKLEUS und Werner „Zappi“ Diermaier, Hans Joachim Irmler und Arnulf Meifert von COMPYLOGNATUS CITELLI zusammen. Eine der einflussreichsten Kapellen für improvisierte und experimentelle Musik, für spätere Ambient und Industrial Music ward geboren.

 

 

„bureau b records“ widmen sich aktuell dem klassischen Schaffen von FAUST, der ersten Hälfte der Siebzigerjahre bis zur Trennung, wahlweise auf 8-CDs oder 7-LPs. Beinahe restlos alle musikalischen Schätze auffahrend, enthält die Box ´1971-1974´ natürlich das Debütalbum (1971) und dessen Nachfolger ´So Far´ (1972), die ´The Faust Tapes´ (1973), die der Überlieferung zufolge aufgrund des günstigen Verkaufspreises und des nicht immer getroffenen Geschmacksnervs vielfach am Tagesende auch als Frisbee endeten, sowie ´Faust IV´ (1973).

Obendrein beinhaltet dieses famose Boxset das – aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit „Virgin“ – bislang unveröffentlichte Werk ´Punkt´ (1974), das auch als „Munich-Album“ bekannt ist, da es in Giorgio Moroders „Musicland Studio“ aufgenommen wurde. Die Bonus-Alben ´Momentaufnahme I´ und ´Momentaufnahme II´ heben außerdem noch weitere Schätze von unveröffentlichtem Material aus Wümme-Tagen. Ein leckeres Dessert bietet die Vinyl-Box mit zwei 7inch Scheiben. Die erste Single enthält das 1971er Demo mit dem sich FAUST bei „Polydor“ beworben hatten (´Lieber Herr Deutschland´) und einen vom Label zurückgewiesenen Song (´Baby´). Die zweite Single entspricht der ersten FAUST-Single-Veröffentlichung ´So Far´ aus 1972.

 

 

Bereits mit dem Debüt ´Faust´ wünscht sich jeder Liebhaber die Siebzigerjahre zurück und kann einen Ohrgasmus kaum vermeiden. FAUST überwinden mit Produzent Uwe Nettlebeck und Toningenieur Kurt Graupner die Grenzen der Musik und machen dieses extravagante Werk zu einem epochalen der Musikgeschichte. Auch wenn die Einen es wegen seines angeblichen Dilettantismus verspotten, feiern die Anderen zu Recht ein samt Haschisch und Alkohol zusammengeschraubtes Meisterwerk. Hier treffen Hardrock und Psychedelic Rock auf Avantgarde und Dadaismus, der dereinst im Clear-Vinyl mit dem Röntgenbild von Werner „Zappi“ Diermaiers Faust veröffentlicht wurde.

Selbst auf ihrem Zweitwerk bleibt bei FAUST trotz der enttäuschenden Verkaufszahlen innerhalb Deutschlands der Humor noch immer nicht auf der Strecke. Das Experimentieren und der Dadaismus kann nunmehr auch in Trance enden oder bisweilen eine gar melodische und eingängigere Seite von FAUST aufzeigen, bei der die Vergleiche mit VELVET UNDERGROUND in den Hintergrund treten und FAUST mindestens auf eine Stufe mit CAN und NEU! rücken.

 

 

Die Sammlungen des Ungehörten, ´Momentaufnahme I´ und ´Momentaufnahme II´, vertiefen sich dagegen noch vielfältiger und herausragender als die einstige Resteverwertung ´The Faust Tapes´ in den Wümme-Tagen. Und mit ´Punkt´ taucht nach so vielen Dekaden ein wahres Schmuckstück innerhalb der gesamten Diskografie von FAUST auf, dass dem Liebhaber aufgrund der Genialität und der 47-jährigen Vorenthaltung wohl ungeniert die Tränen kommen.

 

Einzigartig, einmalig, unnachahmlich, unvergleichlich – FAUST

 

(Klassiker)


Band-Pics: Universal-Music