PlattenkritikenPressfrisch

PHIL LYNOTT’S GRAND SLAM – Slam Anthems

~ 2023 (Cleopatra Records) – Stil: Hard Rock / Rock ~


Es war nur eine Frage der Zeit, bis der kleine THIN LIZZY-Boom, ausgelöst durch die Boxen und Wiederveröffentlichungen in den letzten Jahren, weitere Geschäftsleute auf die Verkaufsbühne bringt. GRAND SLAM war Philips Band, die er nach dem – nicht nur für ihn – enttäuschenden Aus von THIN LIZZY ins Leben rief. Zunächst noch mit John Sykes, der aber aufgrund eines unmoralischen Millionenangebots von David Coverdale zu WHITESNAKE wechselte, und mit Brian Downey, der aber erkannte, dass GRAND SLAM niemals den Erfolg von THIN LIZZY erreichen würden.

GRAND SLAM bekam bekanntermaßen keinen Plattenvertrag, weil Philip Lynott nicht der einzige Heroinabhängige in der Band war und die „Bad Reputation“ an der Band klebte.

Es gab zunächst einzelne Bootlegs und dann hat Mark Stanway, Keyboarder bei GRAND SLAM und MAGNUM, nach und nach die raren Studioaufnahmen und Live-Aufnahmen über „Zoom Records“ veröffentlicht. Recht liebevoll, aber auch mit viel Geschäftssinn. Es gab noch Singles und weitere Live-Aufnahmen aus London und Glasgow, die über andere Plattenfirmen das Licht der Welt entdeckten.

Die Soundqualität war mal ganz ordentlich, mal eher schwächer, je nach Konzert und Aufnahmestudio. Nicht richtig produziert, oft im Demostadium. Über YouTube sind noch einige Songs hinzugekommen. Wo Philip Lynott draufsteht, ist Philip Lynott drin. Deshalb für THIN LIZZY-Fanatiker alles Pflichtkäufe. Und es waren da viele Schätze zu finden. Nicht jeder Song war eines THIN LIZZY-Songs ebenbürtig und die Live-Aufnahmen je nach Gesundheitszustand von Philip mal richtig gut, mal etwas müde. Aber Songs wie ´Crime Rate´ oder ´Sisters Of Mercy´ sind potenzielle Lynott-Klassiker, es gibt Songs wie ´Military Man´, ´Nineteen´ oder ´Dedication´, die erst später zum Zuge kamen. Mit Laurence Archer, vorher mit seinem Stiefvater beim Geheimtipp STAMPEDE und später bei UFO, war ein junger, hoffnungsvoller und starker Gitarrist mit an Bord.

Laurence war zumindest für ´Dedication´ und andere Songs mitverantwortlich und dann völlig überrascht, als der Song als recycelter THIN LIZZY Song 1991 auf Single und dem gleichnamigen Sampler das Licht der Welt erblickte. Er klagte sich in die Rechte ein, musste dafür aber einen größeren Backkatalog ans LIZZY-Management abtreten. Er hat sich „gerächt“ und zieht seit einigen Jahren als GRAND SLAM durch die Lande. Soll nicht schlecht sein, schade um den Namen.

Jetzt aber zur Musik. Das ist sicher nicht offiziell, vielleicht ist Mark Stanway irgendwie beteiligt. Keine Ahnung. Nicht ohne Grund wird die Box in den USA veröffentlicht. Das LIZZY-Management und die LIZZY-Familie haben kein wirkliches Interesse, das Material aufzumotzen und zu veröffentlichen. Genauso wenig wie andere Titel von Philip mit Huey Lewis oder Jerome Rimson, die vor seinem Tod entstanden und auf YouTube in relativ großer Zahl aufrufbar sind.

 

 

CD 1 dieser Compilation beinhaltet 13 Songs von GRAND SLAM aus dem Studio, laut Info 2022 neu abgemischt. Manche Versionen wie von ´Breakdown´ sind sehr stark unterschiedlich wie die von Mark Stanway veröffentlichten. Manche klingen besser, manche wie ´Crime Rate´ gefallen mir in der bekannten Version besser. Egal, ist subjektiv. Alle 13 Songs sind gute bis hervorragende Songs, zumindest wenn man Philip liebt. Gute Gitarrenarbeit, der Sound hin und wieder bescheiden, meist aber sehr ordentlich. Die Songs sind wie bei ´Breakdown´ oder ´Look In These Eyes´ deutlich rockiger und gitarrenlastiger als die „Zoom Records“ Versionen. Ich weiß nicht, ob da noch jemand Gitarre dazugemixt hat.

Mit ´Crazy´, ´I Still Think Of You´, ´I Don’t Need This´ und ´Hot’n’Spicy´ gibt es vier bisher nicht veröffentlichte Songs auf der ersten CD. Alle eher heavy und sehr stark, teilweise schon im Netz aufrufbar. Mit ´Sarah´ gibt es noch eine unbekannte Studioversion des THIN LIZZY-Titels von ´Black Rose´. Infos habe ich dazu keine. Das sind dann auch für einen wie mich Kaufanreize, der dachte, er hat schon alles.

Dann kommen aber alle möglichen recycelten Dinge. Zunächst auf CD 2 elf Songs, die am 05.08.1983 in Orebro in Schweden mit John Sykes und Brian Downey aufgenommen wurden und als Doppel-CD 2002 mit acht Bonustiteln (hier nicht enthalten) veröffentlicht wurden (später noch einmal in anderen Versionen und als Picture Disc). Philip machte, noch vor dem Ende von THIN LIZZY (die letzten Konzerte fanden bekanntermaßen in Kaiserlautern und Nürnberg Anfang September 1983 statt), mit John, Brian und den späteren GRAND SLAM-Musikern Mark Stanway und Gitarrist Donald „Doishe“ Nagle eine kurze Schweden-Tour mit Songs aus seinen Solo-Alben, THIN LIZZY-Gassenhauern und dem bei LIZZY nie live gespielten ´Sarah´. Vom Sound sehe ich keine großen Unterschiede zum schon Veröffentlichten. Insgesamt – auch dank John Sykes und dem unverfälschten Sound – sehr stark.

CD 3 enthält 11 Songs, die schon von Mark Stanway als einzelne und Doppel-CD (CD2 eine Video-CD aus gefühlt 100 Metern unter der Jacke aufgenommen, aber der einzig gefilmte Auftritt von GRAND SLAM) veröffentlicht wurden. Hier alle 11 Songs von drei Stationen in Irland vom Frühjahr 1984 mit Laurence Archer und Robbie Brennan am Schlagzeug für die entschwundenen John Sykes und Brian Downey. Soundtechnisch auch hier aus meiner Sicht kein Unterschied zu den bisherigen Veröffentlichungen.

CD 4 enthält – warum auch immer – nur fünf Songs live in London. Die Versionen klingen etwas anders, als die 14 Songs, die auf der Doppel-CD ´Twilight’s Last Gleaming´ 2003 veröffentlicht wurden, die auch zu einem Großteil im Marquee in London aufgenommen wurden. Warum nur fünf Songs und aus welcher Quelle, keine Ahnung. Sound ist okay. Hätte man aber „auffüllen“ können.

CD 5 enthält die neun Songs des schon in den 80er Jahren veröffentlichten Bootlegs ´Live Document´ (als LP und CD in meinem Besitz) aus dem Oktober 1984, live beim „Kerrang Weekender“, Great Yarmouth aufgenommen. Das Album wurde u. a. 2020 noch einmal als CD und 2021 als Doppel-LP veröffentlicht.

Interessanter dann wieder CD 6 mit 15 Demos von Songs wie ´Nineteen´, ´Gay Boys´, ´Whiter Shade Of Pale/Like A Rolling Stone´ oder ´Crime Rate´. Für Sammler und Komplettisten interessant, weil auch die vier auf CD 1 erstmal veröffentlichten Songs in weiteren Versionen enthalten sind. Insgesamt aber bescheidener bis etwas kaputter (´Don’t Need This´) Sound.

Nun, was soll man mit der Veröffentlichung anfangen? Wer schon die Mark Stanway-Veröffentlichungen hat, muss überlegen, ob er oder sie hier noch einmal so viel Geld ausgibt, wie man am Anfang (!!) auch für die geniale ´Live And Dangerous´ Box ausgegeben hat. Bisher nur in den USA veröffentlicht, da kommt sicher noch etwas Inflationsgebühr dazu (und 50 Dollar Versand). Wer noch nichts von GRAND SLAM hat und sich jetzt nicht alle, teilweise auch raren, Veröffentlichungen zulegen will, für den ist das okay, wenn es nichts ausmacht, dass es noch verschiedene Bonus-Titel und weitere Veröffentlichungen auf dem „Graumarkt“ gab.

Wer hier Geld verdient? Laurence Archer mal wieder keinen Cent, wie Facebook zu entnehmen war. Das „THIN LIZZY AND THE PHIL LYNOTT ESTATE“ auch nicht, das kann aber sicher finanziell verkraftet werden. Leider gibt es auch überhaupt kein Interesse, die GRAND SLAM-Sachen von dieser Seite zu veröffentlichen. Rechtlich zu unsicher, dem hohen Qualitätsanspruch wohl nicht gerecht. Da wird gerade lieber der THIN LIZZY-Whiskey mit ´Black Rose´-Emblem veröffentlicht oder zu kleine Auflagen starker Konzerte zum Record Store Day.

Lang lebe GRAND SLAM! Wer Philip liebt und noch nie reingehört hat, sollte das auf jeden Fall tun. Mit den melancholischen Klassikern wie ´Crime Rate´, ´Sisters Of Mercy´ oder der gedoppelten Cover-Version ´A Whiter Shade Of Pale / Like A Rolling Stone´ kann z. B. gestartet werden.

 


(VÖ: 09.06.2023)