~ 2023 (Merge Records) – Stil: Hardcore Punk/Alternative Rock/Experimental ~
FUCKED UPs EP ´Oberon´ vom letzten Jahr deutete schon darauf hin, dass die kanadische Hardcore-Band ihren weitläufigen Rock-Oper-Ansatz erheblich reduzieren würde, und das mittlerweile sechste Studioalbum des Toronto-Quintetts erinnert nun tatsächlich größtenteils an den scharfkantigen Alternative/Punk Rock des 2014er-Albums ´Glass Boys´.
Die fünf Kanadier zeigten in ihrer langjährigen Karriere nicht nur etwa keine Angst davor hat, Genregrenzen zu überschreiten, sondern sie ignorierten sie nahezu völlig, und während Konzeptalben wie ´David Comes To Life´ aufgrund ihrer Komplexität sogar längere Wikipedia-Einträge erforderten, haben FUCKED UP stets von der viszeralen Kraft ihrer Live Shows profitiert – ein schweißtreibendes Zeugnis für den rituellen Rausch, gepaart mit Momenten glückseliger Katharsis.
Die Band verzichtete jedenfalls über zwei Jahrzehnte hinweg konsequent auf konventionelle Herangehensweisen an ihre Hardcore Punk-Roots, und zog es stattdessen vor, kopfüber immer stärker in ausgefeilte Themen einzutauchen, die komplexem Progressive Rock aus den 70ern durchaus würdig gewesen wären.
´One Day´ wirkt dagegen wie entfesselt vom anhaltenden Verlangen nach übergreifenden großen Erzählungen, und wie eine Destillation all der kreativen Geistesblitze, eingefangen und dargeboten in ihrer dringlichsten Form.
Das Album legt dann auch gleich los mit einem Ausbruch dissonanter Gitarren und hämmernden Punk Rock-Drums, und die nervöse erste Strophe mündet schließlich in einen hymnischen Refrain und rückt Damian Abrahams charismatischen Gesang über schimmernde Gitarrenlinien zunehmend ins Rampenlicht.
Auf ´Lords Of Kensington´ verfasst Abraham eine wütende Anklage gegen die Geißel der Gentrifizierung, der polizeilichen Überwachung und der systemischen Ungerechtigkeit, gemildert durch eine düstere Instrumentalpassage, die an die aufgewühlte Ebbe und Flut von SONIC YOUTH aus der ´Daydream Nation´-Ära erinnert.
FUCKED UP gelingt es jedenfalls eine überraschende Menge an stilistischer Vielfalt in ihr bisher kürzestes Album zu packen. ´I Think I Might Be Weird´ wippt mit Glam Rock-Gitarren und extravaganten Streicher-Staccatos, während ´Broken Little Boys´ wie der künstlerische Indie Rock von TITUS ANDRONICUS losschmettert. ´Nothing’s Immortal´ hingegen kanalisiert den Power Pop von CHEAP TRICK, und ´Cicada´ weckt eindeutig Erinnerungen an die Spätphase von HÜSKER DÜ.
Obwohl es auch einige thematische Überschneidungen zu ´Glass Boys´ gibt, so verschmilzt ´One Day´ ganz individuell seine unterschiedlichen lyrischen und musikalischen Ideen zu einer komprimierteren Art von Roman, der dieses Mal lediglich spannende 40 Minuten andauert – ein Werk, das sowohl die Angst als auch das Selbstbewusstsein der Band durch frenetische Takes und geerdete Unmittelbarkeit auf optimale Weise kanalisiert.
(8,5 Punkte)
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