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MARIUS MÜLLER-WESTERNHAGEN – Das eine Leben

~ 2022 (Sony Music) – Stil: Rock ~


Wir haben ihn wieder. Unseren Marius. Er ist wieder MARIUS MÜLLER-WESTERNHAGEN und nicht nur WESTERNHAGEN. Mit 73 Jahren sitzt er auf der, dem Alter entsprechend gepolsterten und hoffnungsvoll grünen Sitzbank und streckt seine Hand beinahe hilfesuchend wie ein Obdachloser, der seine letzten Klamotten am Leibe trägt, aus.

Den Johnnie Walker hat Marius bestimmt schon die Kehle runtergeschüttet, denn er sinniert viel über das Alter und das Leben. Zeit zum Nachdenken hatte er schließlich genug, als er vor zwei Jahren mit seiner jungen Frau im Zweitwohnsitz Kapstadt festsaß und aus Verzweiflung begann, sein 20 plus Studioalbum zu komponieren.

Die Angst, dass jeder, auch er, nur ´Das eine Leben´ hat, macht Marius auf der Parkbank schon zu schaffen. Denn er glaubt schließlich weder an den lieben Gott („Die Sicherheit ist Illusion, Gott hat es nie gegeben. Er ist nur eine Konstruktion, um sich selber zu verzeih’n.“) noch an die große Politik („Glaubt selbstverliebt an die schamlosen Lügen derer, die über die Macht verfügen.“), wie die dunkel pulsierenden ´Achterbahngedanken´ hervorheben. Und Marius setzt in diesem Album-Highlight natürlich noch einen obendrauf, indem er die ungeschminkte Wahrheit verkündet, dass das Leben keineswegs das Paradies sei.

„Ja, das Leben ist das Leben und eh du dich versiehst, ist es das auch schon gewesen.“

Als hätten wir das nicht schon längst gewusst, lauschen wir dennoch erwartungsvoll ´Das eine Leben´. Doch Marius hat längst nicht genug Johnny intus und ist nur noch genervt, von dieser „Gottverdammten Pandemie“, so schreit er es zumindest in der fulminanten Eröffnung ´Ich will raus hier´ in das Mikrofon, einem Wellenbrecher zur Beendigung der anhaltenden Monotonie. Marius vermisst natürlich New York, Paris und Rom. Während der gewöhnliche Mensch ganz andere Probleme hat, fordert er sogar noch „Ich vermisse Solidarität“ ein. Der alte Armani-Rocker. Er erweist sich ebenso gerne als Sprücheklopfer, wenn er den schnöden Roots-Rocker ´Schnee von gestern´ vorträgt, ohne das passende Sätzlein auf den Lippen zu vergessen („Jedem, dem in diesen Zeiten noch ein Hirn geblieben, kann sich nur besaufen und alle Menschen lieben.“). Auch ´Spieglein, Spieglein an der Wand´, über die Schleimer und Möchtegerne dieser Welt („Du wolltest mal die Welt verändern.“), ist kraftvoll, aber nicht gänzlich erregend.

Dafür präsentiert uns Marius mit dem aktuellen Spiegelbild des ´Zeitgeist´ einen echten Westernhagen, mit scheinbar recht primitiven und gesellschaftlich bunten Strophen, aber einem stimmig großen Refrain. Auch ´Die Wahrheit´ legt er uns bedächtig auf den Tisch, eine epische und mächtige Komposition. Selbst der Klavier-Song ´Ich werde dich lieben bis in den Tod´ macht nochmal viel wett („An einen Sinn des Lebens hast du nie geglaubt.“), übertreibt es womöglich nur mit seinem Liebesbeweis („Selbst wenn du ’n Virus hättest, todbringend, ganz egal, mit Wonne von dir lecken, verrecken, verrecken.“).

Zugedröhnt und beinahe experimentell flammt obendrein ein wüstig flirrendes ´Es geht immer nur so weit wie es geht´ auf. Alles mit Dylan-Protegé, Produzent und Multiinstrumentalist Larry Campbell im “Ashbury Park“ in New Jersey aufgenommen. Die zweite Albumseite hat gleichwohl nicht ganz so viele Attraktionen. Verfrüht kommt das ´Abschiedslied´ für die Verflossene („So geh in Frieden, Engelsgleiche. Meiner Liebe sei dir gewiss.“) samt Akustikgitarre und Klavier. Und so endet das bluesig angehauchte Alterswerk in der Hoffnung, mit der alles begann. Marius hat indes noch den gewichtigen Ratschlag übrig, ´Wenn wir wieder über den Berg sind´, sollten wir keine „Falschen Götter“ inthronisieren. Bis dahin hören wir in Endlosschleife ´Ich will raus hier´, ´Achterbahngedanken´, ´Zeitgeist´ sowie ´Die Wahrheit´ von MARIUS MÜLLER-WESTERNHAGEN und lutschen acht dick-runde Pfefferminzdrops.

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