ABYSSPHERE – On the Way to Oblivion
2017 (Endless Desperation Productions) – Stil: Melodic/Progressive Dark/Death Metal
Mmmhhhhh – was ist denn das? Metal Easy Listening? Der erste Eindruck täuscht, denn hier steckt wesentlich mehr dahinter.
Eine kühle, schmeichelnde Brise wie aus den darkwavigen 80ern weht aus meinen Lautsprechern durch die schwüle Sommernacht und bringt willkommene Erfrischung für Ohren und Geist. Ist das der luftig-leichte Sound der berühmten St. Petersburger Weißen Nächte, den ABYSSPHERE uns mit Ihrem dritten Doppel-Longplayer offerieren? Oder doch eher die skandinavisch-düster anmutenden Klänge tiefster seelischer Abgründe?
Die Band von der Newamündung bietet beides, und verwebt diese Gegensätze von epischen Melodien und kalter Rhythmik mit diversen weiteren Einflüssen wie gotischen Synthieklängen und folkoristisch-warmen Weisen zu einem ganz eigenen, sehr lebendigen und abwechslungsreichen Soundteppich, der weit mehr als ein Patchwork verschiedener Stile ist. Es lohnt sich absolut, sich auf den zuerst unmodern und pathetisch erscheinenden Sound wie um die Jahrtausendwende einzulassen. Belohnt wird der aufgeschlossene Hörer dann mit grossartig komponierter, ganz eigenständiger Musik, welche pulsiert, sich ruhig in grosse, symphonische Klangebenen ausdehnt, um sich sofort wieder kraftvoll zu komprimieren und danach eruptiv-heavy loszubrechen. Aber Obacht Scheuklappenträger – vor den Vocals muss gewarnt werden! Nicht wegen der alten Grundsatzfrage clean oder harsch, dank zweier Sänger gibt’s hier beides in sich perfekt ergänzender Manier, sondern weil in der Muttersprache Russisch gesungen, geschwelgt, gesprochen, gegrowlt und gefaucht wird. Ganz große Gefühle, das ist authentisch und passt perfekt zum auch bei den Vocals ständig abgewandelt wiederholten Spiel der Kontraste.
Eigentlich zeichnet sich die Band sogar durch drei verschiedene Arten von Gesang aus: den klaren von Multiinstrumentalist und Songschreiber Konstantin Tsygankov (Gitarren und Bass), den extremen von Alexander Yakovlev, der auch für die Lyrics verantwortlich zeichnet sowie die Erzählerparts übernimmt, und ausserdem arrangiert und programmiert. Diese beiden sind heutzutage der kreative Kern von ABYSSPHERE, das Schlagzeug wurde von Evgeny Nosov eingespielt und Alexander Mikhailov steuerte ein paar Gitarrensoli bei.
Ganz besonders hervorstechend ist jedoch die ätherisch über all dem schwebende, wunderbar singende Leadgitarre von Konstantin, die schön klar in den Vordergrund gemischt wurde und daher die Aufmerksamkeit des Hörers teilweise mehr fesselt als die menschlichen Stimmen. Jari Lindholm hat einen großartigen Job gemacht und die Stärken der St. Petersburger perfekt in Szene gesetzt. Ja, Schweden liegt gerade mal auf der anderen Seite der Ostsee, und nicht nur das (mäßig gelungene, trotzdem die instrumentelle Meisterschaft der erfahrenen Musiker unterstreichende) ‘Only for the weak’-Cover, vor allem die ausgiebigen, Arpeggio-geladenen, sphärischen Soli weisen auf die gewollte Nähe zu Jesper Strömblad (zu frühen IN FLAMES-Zeiten) und vor allem auch DAN SWANÖ hin. Da sind dann auch GODGORY (‘Insight’ hat einige Referenzen zu ‘Final Journey’), AMORPHIS und SENTENCED nicht weit. Gothic-Hooks erinnern an DARKSEED, und manchmal in ihrer elektronischen Kälte sogar an SAMAEL (‘Meridian’). Die folkloristischen Rhythmen bringen dagegen Wärme, slawische Schwermut, Sehnsucht und Leidenschaft mit, hier würden sich auch MOONSPELL-Fans wohlfühlen.
Durch das mehr als anderthalbstündige Werk führt ein emotionaler roter Faden, eine Stimmung, die mich an einen schwerelosen Flug durch endlose Weiten erinnert, tiefe Atemzüge klarer frischer Luft sowie eine körperliche Erfahrung von völliger Freiheit jenseits allen irdischen Ballasts. Das tatsächliche philosophische Konzept hinter dem Album beruft sich auf den Titel und faßt die Vergessenheit als Möglichkeit auf, die unbeantwortbaren existentiellen Fragen der Menschheit hinter sich zu lassen, sich von der Vorstellung zu lösen, jemals zu verstehen, wer wir sind, woher wir kommen, was der Sinn des Lebens und des Universums sei, und einfach damit zufrieden zu sein was ist. Ist grössere Freiheit möglich?
Dies ist eine der Platten, die den Kopf lüften, den Blick weiten und dabei immer weiter wachsen. Und ganz entgegen des Albumtitels werden die Russen nach diesem Glanzstück sicher nicht in der Vergessenheit versinken. Es wäre ABYSSPHERE vielmehr zu gönnen, dass sie auch im Westen baldigst entsprechend Gehör und Gefolgsleute finden.
(8,5 Punkte)
Erhältlich und anzutesten ist das Doppelalbum über:
https://abyssphere.bandcamp.com/album/-
https://www.last.fm/de/music/Abyssphere