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JETHRO TULL – Benefit

1970/2025 (Analogue Productions) - Stil: Hard/Folk Rock

Im Frühling 1970 standen JETHRO TULL am Scheidepunkt ihrer Karriere. Die britische Band, die in den späten Sechzigerjahren ins Leben gerufen wurde, war mit ihren ersten Alben ´This Was´ (1968) und ´Stand Up´ (1969) noch für einen Sound aus Jazz-Fusion und Bluesrock bekannt. Doch mit ihrem nächsten Album, ´Benefit´, sollten sie ihren Sound noch stärker weiterentwickeln und verfeinern.

JETHRO TULL hatten mit ´Stand Up´ gerade ihren ersten großen Erfolg gefeiert und flogen zu ihrer ersten Headlinertournee in die Staaten. Doch trotz des wachsenden Ruhms lehnte Sänger Ian Anderson eine Einladung zum legendären “Woodstock”-Festival ab. Er wollte sich bewusst von der Hippie-Bewegung distanzieren und nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt werden. Dieser Wunsch nach kreativer Freiheit prägte die Band für ihren weiteren Weg.

Ende Januar 1970 kehrten JETHRO TULL mit der Single ´Witch’s Promise´ in die britische Musikszene zurück. Doch zuvor musste die Band einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen. Die Aufnahmen zu ´Benefit´ waren die letzte Zusammenarbeit mit Bassist Glenn Cornick, der nach den intensiven Tourneen aus der Band entlassen wurde. Demgegenüber wirkte John Evan bei den Aufnahmen erst als Session-Musiker mit, ehe er endgültig zum offiziellen Bandmitglied erkoren wurde und sein Klavier- und Orgelspiel den Bandsound auf lange Sicht prägen sollte.

Musikalisch bedeutete der nächste Schritt mit ´Benefit´ einen Wechsel von den eher traditionellen Blues- und Folk-Elementen hin zu einem dunkleren, kraftvolleren Sound. Diese Neuerung spiegelte die Anspannung der langen Tournee in den USA und den zunehmenden Frust mit der Musikindustrie wider. Ian Anderson beschrieb das Album im Vergleich zu ´Stand Up´ als dunkler und kühler, sah es aber auch als einen essenziellen Schritt in Richtung mehr künstlerischer Integrität. Die Band konzentrierte sich durchaus mehr auf die kraftvollen Gitarrenriffs, die stark von den zeitgenössischen großen Namen wie CREAM und LED ZEPPELIN beeinflusst waren.

Im Studio arbeitete die Band experimenteller als je zuvor. Weg von einer Blues-orientierten Rockgruppe hin zu einer eigenwilligen, progressiven Band, die sowohl musikalisch als auch in ihrer Identität neue Wege beschritt. Sie fügten umgekehrte Flötenschleifen und variable Bandgeschwindigkeiten für die Gitarren hinzu. Das sorgte für interessante Klangtexturen, die damals recht innovativ waren. Die Musik klang endlich lebendig und fesselnd.

Ian Anderson, als charismatischer Frontmann, und Martin Barre mit seinem unverwechselbaren Gitarrensound trugen dazu bei, dass ´Benefit´ zu einem wichtigen, aber oft übersehenen Kapitel in der Geschichte der Band wurde, das den Weg für ihren künftigen Erfolg in den Siebzigerjahren, für die große Progressive Rock-Phase ebnete. In diesem Album zeigte sich nicht nur ein stilistischer Wandel, sondern auch eine Verfeinerung und Erweiterung der klanglichen und technischen Fähigkeiten.

Außerdem festigte ´Benefit´ den Ruf von JETHRO TULL als ernstzunehmende Live-Band. Ihre Arena-Tournee in den USA vor ausverkauften Häusern sowie beeindruckende Festivalauftritte, wie auf der “Isle of Wight” im Sommer 1970, bereitete ihnen den Weg zu einer internationalen Größe.

Die Kompositionen des Albums offerieren eine wahre Klangreise. Das Eröffnungslied der ersten Seite, ´With You There To Help Me´, beginnt mit einer sehr eigenen Mischung aus akustischen Klängen, düsterem Klavier und einer stark verzerrten Flöte, die umgehend eine melancholische Atmosphäre erzeugt. Ian Andersons Stimme ist sehnsüchtig, untermalt von den treibenden und jubelnden psychedelischen Gitarrenklängen von Martin Barre. Die rhythmische Basis, die von Clive Bunkers präzisem Schlagzeug und Glenn Cornicks warmem Bass gelegt wird, ist anfangs von getragener Natur, ehe sie letztlich im Beisein von Flöte und Gitarre immer explosiver wird.

´Nothing To Say´ ist im Anschluss ein Paradebeispiel für den aufkommenden experimentellen Stil der Gruppe. Unerwartete Klavierakkorde treffen auf kräftige Gitarren sowie einen druckvollen Bass und verschaffen dem Stück eine unterschwellige Spannung. Gleichwohl bleibt eine ausgesprochene Einprägsamkeit gewahrt, wenn Ian Anderson über den Frust des Tourlebens singt.

´Inside´ unterscheidet sich von den beiden vorhergehenden Liedern. Die Flöte begleitet nun fortwährend Ian Andersons Gesang, während sich der Song melodischer und weniger mit harten Gitarren-Riffs präsentiert. Doch der nächste Höhepunkt ´Son´ begeistert von Neuem mit kraftvollen und komplexen Strukturen. Martin Barres Gitarrenspiel zeigt sich in Höchstform, von rauen psychedelischen Riffs bis hin zu melancholischen, feinen Zwischentönen. Ian Andersons Stimme wechselt zwischen wütendem Zynismus und verletzlicher Nachdenklichkeit.

Zur Auflockerung überrascht ´Michael Collins, Jeffrey And Me´ mit einer interessanten Mischung aus akustischen, folkloristischen Klängen und einem südlich angehauchten Boogie. Mit einer lyrischen und musikalischen Flexibilität zeigt die Band ein Zusammenspiel von akustischer Gitarre, Klavier und feinem Bass in einer intimen Atmosphäre.

Das energische Eröffnungslied der dritten Seite, ´To Cry You A Song´, ist – kombiniert mit kraftvollen Gitarrenriffs und einem treibenden Schlagzeug – äußerst rockig, so dass dementsprechend auch Martin Barres Gitarrensolo einen besonderen Höhepunkt darstellt. Die Intensität dieses Stückes, lyrisch über die Rückkehr zur eigenen Frau nach einer Tournee, macht es zu einem der charakteristischsten Lieder von ´Benefit´.

Dagegen ist ´A Time For Everything´ von zerbrechlicher Stimmung. Ein dezent experimenteller Ansatz und eine spärliche Instrumentierung erzeugen ein beinahe gedankenverlorenes Lied mit prominenter Flöten- und Klavierbegleitung. Der bekannte und rockige Song ´Teacher´, ursprünglich nur auf der US-Veröffentlichung enthalten, ist etwas konventioneller, lebt von seiner knackigen Gitarren- und Flötenarbeit, wobei die Hammondorgel zusätzlichen Druck ausübt. Er besitzt allerdings gleichsam einen kritischen Text über autoritäre Figuren.

Eine schnellere und zupackende Komposition ist ´Play In Time´, die von einem flötengeprägten Gitarrenmotiv begleitet wird. Die experimentellen Studiotricks sorgen dabei für Unberechenbarkeit und Frische. Obwohl die Rock-Wurzeln nicht vergessen werden, betonen sie die progressiven Elemente. Zum regulären Abschluss ertönt ´Sossity, You’re A Woman´, ein sanftes, folkiges Stück, das durch die akustische Gitarre akzentuiert wird. Ian Andersons Flötenspiel bringt eine gewisse Leichtigkeit, und seine Texte über den Klassen- und Altersunterschied eines Liebespaares bieten einen nachdenklichen Ausklang für ein Album, das den Bogen zwischen Härte und Sensibilität spannt.

Zum endgültigen Abschluss der Vinyl-Scheibe dreht ´Alive And Well And Living In´ seine letzte Runde. Ursprünglich nur auf der UK-Version enthalten, schwebt der Song zwischen Folk-Rock und Ballade in einer fast jazzigen Klangwelt.

´Benefit´ ist kein technisch perfektes oder konzeptionell ausgefeiltes Werk von JETHRO TULL, aber genau das macht seinen speziellen Reiz aus. Das Album beruht auf der Unsicherheit und Experimentierfreude einer sich neu orientierenden Band, die sich ihrer Stärken – kraftvolle Gitarren und markante Flöte – aber jederzeit bewusst ist.

Es ist eine Sammlung individueller und erstklassiger Stücke mit einer für diese Zeit bemerkenswerten Klangqualität. Auf dem Weg zum großen Durchbruch und zum Progressive Rock bietet ´Benefit´ einige ihrer besten Songs der frühen Siebzigerjahre. Es lohnt sich, bei jedem Durchgang neue Facetten und Details zu entdecken.

Derzeit lädt die 45rpm-Doppel-LP von ´Benefit´ durch “Analogue Productions” dazu ein, das Album neu zu entdecken und zu erleben. Die gewohnt unübertreffbare Verarbeitung des originalen analogen Mastermaterials erzeugt eine Klangfülle mit herausragender Detailtreue.

Matthew Lutthans’ Mastering lässt die komplexen Klänge und dynamischen Nuancen von ´Benefit´ lebendig und räumlich erleben. So entfaltet sich die Musik mit einem klaren, kraftvollen Bass, leuchtenden Akzenten und einer Präsenz, die den Hörer direkt ins Geschehen zieht. Die Pressung bei “Quality Record Pressings” trägt wieder einmal dazu bei, dass das Album in eine neue Dimension erhoben wird.

Das Gatefold-Cover nimmt liebevoll Bezug auf die erste britische Veröffentlichung, und die aufgedruckte Song-Reihenfolge der US-Version sowie der Only-UK-Track als Bonus machen diese Edition besonders wertvoll und vollständig. Mit der 45rpm-Doppel-LP erlebt man das Album nicht nur neu, sondern auch in einer Klangqualität, die dem innovativen Werk gerecht wird. Somit wird endlich auch ein wichtiger Beitrag zur Wertschätzung eines oft übersehenen Meisterwerks von JETHRO TULL geleistet. Für echte Vinyl-Liebhaber ist diese Veröffentlichung ein unentbehrliches Juwel, das ´Benefit´ zu guter Letzt ins verdiente Licht rückt.

Ein kleines Meisterwerk in großem Klang.

https://www.facebook.com/officialjethrotull

 

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