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THE WHO – Who´s Next

~ 1971/2023 (Polydor/Universal Music) – Stil: Rock/Hardrock ~


Sie standen an den Hängen und urinierten gegen einen mächtigen Monolithen aus dem All. Tatsächlich standen John Entwistle, Keith Moon, Pete Townshend und Roger Daltrey in einem Schlackenhaufen von South Yorkshire und allein Townshend urinierte gegen diesen großen Betonpfahl. Für die anderen Flecken an diesem schnöden Betonpfahl musste etwas Wasser herhalten. Selbst der Himmel wurde für das Cover-Artwork des fünften Studioalbums von THE WHO nachträglich hinzugefügt.

Aktuell erscheint dieser Klassiker zwei Jahre nach seinem 50. Jubiläum als Remaster bzw. in der teuren Variante als Halfspeed-Mastering auf jeweils einer Vinyl-Scheibe, sowie auf einer CD oder zwei CDs mit Demos, Live- und Session-Aufnahmen. Ein limitiertes 4-LP-Set enthält als Zusatz ein vollständiges 1971er Konzert aus San Francisco.

Zudem wird ´Who’s Next´/´Life House´ als „Super Deluxe Edition“ mit 155 Songs auf zehn CDs vorgelegt, da es obendrein alle Songs von Pete Townshends „Life House“-Projekt enthält, das er als Nachfolge des Konzeptalbums ´Tommy´ geplant hatte. Letztlich fanden von dem Projekt jedoch nur acht Songs ihren Platz auf ´Who’s Next´, die restlichen wurden auf die nachfolgenden Alben verteilt. Jetzt werden indes alle Songs des „Life House“-Projekts in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen auf  ´Who’s Next´/´Life House´ veröffentlicht.

 

 

Mit dem kühnen „Life House“-Projekt erwies sich Pete Townshend als echter Visionär. In einer Welt, die sich der selbst verursachten Umweltverschmutzung ausgesetzt sieht und von Klimakatastrophen heimgesucht wird, lässt sich mit Leichtigkeit die Freiheit der Menschen immer stärker einschränken. Die Unterhaltungsindustrie ist in der Umsetzung von „Brot & Spiele“ dabei für Letzteres zuständig und verbietet irgendwann sogar die Musik.

Das unvollendete Projekt, das dereinst als multimediale Science-Fiction-Rockoper angekündigt wurde, ließ Pete Townshend allerdings beinahe in einen Nervenzusammenbruch schlittern, doch das vormals nur fiktive und immer mehr zur Realität werdende Skript sollte noch weitaus größere Probleme bereiten. Glücklicherweise überließ das Quartett dem Produzenten Glyn Johns das vorliegende Songmaterial für die Zusammenstellung eines traditionellen Albums, so dass zumindest das Projekt letztlich noch ein gutes Ende fand.

Im Übrigen waren THE WHO anno 1971 längst mehr als nur ein paar Jungs, die ihre Instrumente auf der Bühne zertrümmern. Denn nicht nur Pete Townshend offenbarte immer mehr sein Songwriter-Genie. Er nutzte besonders im Eröffnungsstück ´Baba O’Riley´ Effekte seiner Lowery Berkshire-Orgel und allgemein im Rausschmeißer ´Won’t Get Fooled Again´ Synthesizer und modifizierte Keyboards. Ersteres, gerne auch als „Teenage Wasteland“ betitelt, ist gar eine Ode an den Komponisten Terry Riley und den indischen Guru Meher Baba.

Im Gegenzug trumpft ´Love Ain`t For Keeping´ nicht nur mit einem starken Akustikgitarrensolo sowie tollen Gesangsharmonien und ´My Wife´ mit einem Blechbläser-Arrangement auf. Denn mit dem großartigen Session-Musiker Nicky Hopkins am Klavier folgen die nächsten großen Höhepunkte, ´Song Is Over´ und ´Getting In Tune´, in nostalgischer Atmosphäre.

Hintenan tönen ferner das superbe, von Pete Townshend allein gesungene ´Going Mobile´, das mit kaum zu überbietenden Gesangsharmonien schmetternde ´Behind Blue Eyes´ sowie die unter Musikern beliebte Stadionhymne ´Won`t Get Fooled Again´ über Revolutionen und Regierungen, deren Köpfe immer dieselben bleiben.

Und am Ende des Tages fallen sie wieder aus ihrer Rolle und urinieren an den Betonpfahl, der den Eindruck eines Monolithen erweckt. Nichts ist, wie es scheint. Nichtsdestotrotz waren THE WHO die lauteste Rockband der Welt.

(Klassiker)

 

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