PlattenkritikenPressfrisch

TEARS FOR FEARS – The Seeds Of Love

~ 1989/2020 (Mercury/Universal Music) – Stil: Rock ~


Öffnen wir diese wohlbekannt-, mini-schuhkarton-große Box der „Limited Super Deluxe Edition“, schälen wir ein Album nach dem anderen in seiner silberling-großen Papp-Umhüllung heraus. Zuerst mit ´The Seeds Of Love´ das Original-Album von TEARS FOR FEARS, dann unter dem Titel ´The Moon´ Radio-Edits und Remixe, unter dem Titel ´The Sun´ 45er und B-Seiten, unter ´The Wind´ Demos, Diverses und Jams sowie mit ´The Rain´ den Steven Wilson 5.1 Mix & Stereo-Mixe. Alles im schicken Blau verpackt und mit goldener Schrift und Zeichnung verziert. Das ausführliche hochkant Booklet enthält ein langes Interview, ein quadratisches und glänzendes hingegen Fotos und kleine Hintergrundinformationen zu den einzelnen Musikern. Die Lyrik bleibt schändlicher Weise unentdeckt.

´The Seeds Of Love´ ist und war das dritte Studioalbum von TEARS FOR FEARS. Das letzte, echte TEARS FOR FEARS-Werk, so sagen die Bandgründer Roland Orzabal und Curt Smith später, sei allerdings bereits das Debüt ´The Hunting´ gewesen. Immerhin verhalfen ihnen die Musikvideos und Singles zu den Songs ´Shout´ und ´Everybody Wants To Rule The World´ aus dem schon konzeptionelleren und zweiten Studioalbum ´Songs From The Big Chair´ zum großen Durchbruch in Deutschland und den USA. Sänger/Gitarrist Roland Orzabal musste von seinen Kollegen freilich erst überredet werden, der Single ´Shout´ zuzustimmen.

Gleichwohl erklomm die Brit-Band ihren künstlerischen Höhepunkt mit ihrem dritten und letzten Album der Achtzigerjahren. Für ´The Seeds Of Love´ schrieb Roland Orzabal gemeinsam mit Curt Smith ´Sowing The Seeds Of Love´, zwei weitere alleine und fünf Titel mit der Pianistin Nicky Holland. Von dem Sound des Synthiepop wollten sie sich distanzieren. Der warme Klang der Sechziger- und Siebzigerjahre faszinierte sie mittlerweile weitaus mehr.

Schlagzeuger Manny Elias war bereits nicht mehr, Keyboarder Ian Stanley zum letzten Mal an einem Album beteiligt. Als die Zusammenarbeit mit dem Produzentenduo Clive Langer und Alan Winstanley stockte, riss Roland Orzabal die Produktion mit David Bascombe in Peter Gabriels „Real World Studios“ an sich. Sie wurde mit über eine Million Britische Pfund wohl zur teuersten ihrer Zeit.

Mit DEPECHE MODE konnten TEARS FOR FEARS längst nicht mehr in eine Schublade geworfen werden. Hier konnten nur noch solche geöffnet werden, in denen unter anderen TALK TALK, THE BLUE NILE und PREFAB SPROUT steckten, denn Roland Orzabal und Curt Smith interessierten sich unterdessen für STEELY DAN, LITTLE FEAT und PINK FLOYD. Trotz aller, nicht immer positiver Vorzeichen wurde ´The Seeds Of Love´ mit seinen Verweisen zu Pop und Rock, Psychedelic und Blues, zu Jazz und Soul, zu Prog und Art Rock zu einem Meisterwerk, dem die Detailverliebtheit noch heute anzuhören ist.

 

 

Bereits die ersten beiden Epic-Songs stellten das Maß aller Dinge dar. ´Women In Chains´ entstand aus Roland Orzabals Therapieversuch, die Erfahrungen seiner Kindheit, die Misshandlungen seiner Mutter durch seinen Vater, zu verarbeiten. Seine Depressionen versuchte er ebenso mit der Urschreitherapie von Arthur Janov in den Griff zu bekommen. Aus dem Ansatz, mit Weinen die Erinnerungen zu verarbeiten, entsprang schließlich der Bandname TEARS FOR FEARS.

Die Musiker mussten gleichzeitig um die Teilnahme der von ihnen entdeckten amerikanischen Sängerin und Pianistin Oleta Adams kämpfen. Das Schlagzeugspiel meisterte ebenso keiner, so dass sich Phil Collins für diesen einen Song hinter das Drumkit setzte. Aus dieser Liebe zum Detail, in Verbindung mit dem Gesang von Roland Orzabal und Oleta Adams in den ersten beiden Liedern, wurden echte Sternstunden geboren.

Noch mächtiger überstrahlte nach ´Women In Chains´ der folgende ´Badman’s Song´ alles andere in aller Epic und Theatralik, beginnend in Americana Weiten und dem Gospel-Gesang von Oleta Adams. Der quasi Titelsong ´Sowing The Seeds Of Love´ warf Band und Zuhörer in die Sechzigerjahre zurück, mit einem gleichbleibenden, unwiderstehlichen Tempo und einem gehörigen THE BEATLES-Einfluss. Tragischerweise stieg die Single nicht auf Platz 1 der US-amerikanischen Charts und blieb hinter Janet Jackson auf Platz 2 hängen, ansonsten wären TEARS FOR FEARS endgültig abgehoben.

Die grundsätzlich positive Stimmung schloss dennoch mit dem Ende der ursprünglichen A-Seite ab. ´Advice For The Young At Heart´ schwebte nämlich in diesem Sinne ganz zu den Vorbildern STEELY DAN und gesanglich gar kurzerhand zu YES hinüber.

Zwar begann die einstige B-Seite mit ´Standing On The Corner Of The Third World´ äußerst einschmeichelnd, wurde von Roland Orzabal jedoch auch als Ausfluss seiner Urschreitherapie komponiert und brodelte zeitweise in der Ursuppe fröhlich vor sich hin. Aus dem smoothen Sound heraus gab sich ´Swords And Knives´ gänzlich den wehenden Rock-Klängen hin, die auf der einen Seite von STEELY DAN, auf der anderen von PINK FLOYD erregt waren.

Als Inspirationsquelle für das nächste Epic namens ´Year Of The Knife´ gaben sie offen Prince und Tom Pettys ´American Girl´ preis. Letztlich spielte abermals das Klavier von Nicky Holland auf, in einer leichten Atmosphäre wie einst bei THE BLUE NILE, damit die ´Famous Last Words´ nochmals aufbrausen durften. Tom Waits konnten sie indes für einen Versgesang nicht überreden.

Wer, wann auch immer, die mini-schuhkarton-große Box öffnet, oder sich ´The Seeds Of Love´ mit einem anderen Medium durch die Ohren blasen lässt, stolpert über die Frage, ob nicht allein die erste Hälfte des Werkes vollkommen ausreichen würde, um es als Klassiker zu bezeichnen?

https://www.facebook.com/TearsForFears