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BEETHOVEN X – The AI Project

~ 2021 (Modern Recordings/BMG/ada/Warner) – Stil: Klassik ~


Freude, schöner Götterfunken.

Schade, dass ich 1818 bereits meinen letzten Tagebucheintrag verfasst hatte, dabei sind derweil so viele Worte zusammengekommen, die zu Papier gebracht werden müssten.

In diesen Tagen maßen sich doch tatsächlich völlig weltliche Herren an, mit dieser neumodischen Erfindung, dieser künstlichen Intelligenz, meine zu Lebzeiten unvollendete Sinfonie selber fertig zu komponieren und zu schreiben.

Dabei kommt es mir so vor, als hätte ich erst gestern meine 9. Sinfonie vollendet, die mittlerweile jeder Erdenbewohner allein aufgrund des wunderbaren letzten Satzes mit dem Chorgesang „Ode an die Freude“ nach Friedrich Schillers gleichnamigem Gedicht verinnerlicht haben müsste. Die Uraufführung fand jedoch gerade erst am 7. Mai statt, vor eigentlich wenigen Tagen, im Jahr 1824 muss es gewesen sein.

Die Anwesenden waren selbstverständlich restlos begeistert. Gut, zuerst waren sie von diesem Chorgesang bei einer Sinfonie überrascht. Und jetzt nennen sie mich einen Revolutionär, der mit einem Dogma gebrochen hat. Sogar der Europäischen Union gefällt diese Melodie, haben sie schließlich die instrumentale Version davon als eigene Hymne auserkoren. Europäische Union, was es nicht alles gibt. So ein paar vereinte Dörfer wären früher auch ganz schön gewesen, aber ich bin ja recht schnell in die Großstadt, nach Wien gegangen.

Jetzt aber nochmal den Gedanken auf meine 9. Sinfonie gerichtet. Meine 5. Sinfonie, die mit diesem tollen da-da-da-daaaaa ist schließlich nicht minder schön. Keinesfalls. Außerdem muss die Zahl neun nicht immer tonangebend sein, selbst wenn es diese jungen Künstler wie Gustav Mahler oder Anton Bruckner ebenfalls wie meiner einer nicht schafften, eine zehnte Sinfonie zu komponieren.

Andererseits zerstören sie jetzt die Magie der Zahl neun, der neunten Sinfonien, wenn sie es tatsächlich getan haben und meine 10. Sinfonie vollendet haben. Hoffentlich ist wenigstens die Endfassung zufriedenstimmend und erfüllt alle Erwartungen. Nicht dass noch Änderungen vorgenommen werden müssen und weitere Fassungen entstehen. Denn bei „Fidelio“, meiner Oper aus dem Jahr 1805, waren die Herrschaften nämlich gleichsam nicht sofort begeistert, so dass erst die dritte Fassung ihre vollste Zustimmung fand.

Stellen wir uns mal vor, man hätte die Beatles, nachdem ihre erste Single ´Love Me Do´ nur auf Platz 17 der britischen Charts gelandet ist, wieder ins Studio geschickt und gesagt, schreibt den Song mal schnell neu oder schreibt ihn um, damit das ein Hit wird. Unvorstellbar. Aber mit uns Klassik-Komponisten kann man das ja machen.

Immerhin kam ja damals dieser Herbert von Karajan auf die nette Idee, diesen angehechelten Ton-Technikern zu übermitteln, dass ein Silberling, also dieses später als CompactDisc auf den Markt gekommene Medium, mindestens so lang sein muss, um meine 9. Sinfonie gänzlich zu erfassen. Das war immerhin ein feiner Zug von ihm. Obwohl, diese Vinyl-Scheiben mag ich natürlich genauso, selbst wenn man da so oft aus dem Sessel aufstehen muss. Na ja, seit meinem 27. Lebensjahr höre ich ja ohnehin nicht mehr so gut, jetzt eigentlich überhaupt nichts mehr. Aber ich kenne ja die Töne, habe sie alle im Kopfe, und weiß, wann eine Scheibe und die Komposition zu Ende gespielt ist.

Wie mir nun gestern zugetragen wurde, hat dieser einst gelbe, heute magentafarbene Verein, diese „Deutschen Telekom“ das Projekt initiiert. Wissenschaftler des nach mir benannten Hauses in Bonn, internationale Musikexperten und welche für künstliche Intelligenz, KI, fanden sich zusammen, um meine 10. Sinfonie, also die, die ich einst aus irgendwelchen irdischen Gründen nicht mehr vollenden konnte, fertigzustellen. Welch ein Affront.

Andererseits aber auch ganz nett. Natürlich werden sie nie an meine Intelligenz, meine Schaffenskraft und meine brillante Kompositionsgaben heranreichen, wer kann dies schon. Dennoch greifen sie meinen philosophisch-musikwissenschaftlichen Ansatz auf. Bekanntlich belegten meine Skizzen ja dereinst, dass ich echte Spiritualität und dabei insbesondere den Choral „Herrgott dich loben wir“ verarbeiten wollte. Damals muss ich tatsächlich schon Depressionen gehabt haben.

Die Herrschaften haben, so erzählt man sich, die KI mit all meinen Kompositionen gefüttert, ebenfalls mit den Notenskizzen der unfertigen 10. Sinfonie sowie mit Werken meiner Zeitgenossen, so dass sie unzählige, selbst berechnete Versionen ausgespuckt haben soll. Die schlüssigsten sollen Komponisten ausgesucht und der KI wieder zugeführt haben. Schließlich wählten der Komponist Walter Werzowa, die Musiker des Orchesters Bonn und ihr Dirigent eine Version aus und gebaren meine 10. Sinfonie in den Sätzen 3 und 4. Ohne mich zu fragen, haben sie gar eine Orgel integriert. Hoffentlich spielen sie es dann auch in den Gotteshäusern. Himmlisches Heiligtum.

Natürlich hegen sie nicht den Anspruch, die echte 10. Sinfonie erschaffen zu haben, die kann schließlich nur aus meiner Feder stammen. Denn die Idee der Herrschaften war grundsätzlich nicht verkehrt und wird bestimmt ein paar Kreuzer oder Gulden abwerfen, sogar für mich. Nur mit der KI sollte man nicht spaßen. Denkt an meine Worte, oder an die des Gründers von „Alibaba“: „Wir können Kindern nicht beibringen, mit Maschinen zu konkurrieren, sie müssen Werte, Überzeugung, unabhängiges Denken, Teamwork und Mitgefühl lernen. Wichtig sind: Sport, Musik und Kunst. Alles, was wir lehren, muss uns von Maschinen unterscheiden. Wenn es Maschinen besser können, müssen wir darüber nachdenken.“

Ich muss natürlich keine Sekunde nachdenken, um zur Überzeugung zu gelangen, dass meine Ideen in meinem Kopf immer die glorreichsten waren und sind. Allerdings habe ich vor den Künstlern und beteiligten Musikern des ´The AI Project´ großen Respekt.

Echte Kunst ist eigensinnig, habe ich mal gesagt. Im Zusammenhang mit dieser Erschaffung einer 10. Sinfonie gilt jedoch weiterhin mein Leitsatz: Musik ist der einzige unverkörperte Eingang in eine höhere Welt des Wissens.

Euer L.