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TURBULENCE – Frontal

~ 2021 (Frontiers Music s.r.l.) – Stil: Progressive Rock / Metal ~


Was passiert hier gerade? Nicht nur, dass die Flut an starken Outputs abartige Ausmaße annimmt, sondern viele davon scheinen ´When Dream And Day Unite´ gerade wieder in Dauerrotation zu hören, um sich von der Atmosphäre und kitschfreier Epik inspirieren zu lassen.

Was dabei rauskommt, ist jedoch beileibe nicht der Versuch, Unkopierbares nachzuahmen, sondern auf dieser Basis seine eigene Kreativität zu befruchten. Und was wachsen daraus vielerorts für herrliche Gewächse. Auch im Libanon. Gepflanzt wurde TURBULENCE von Alain Ibrahim (Gitarre) und Mood Yassin (Keyboards), fleißig gegossen bis zur fruchttragenden Reife haben danach Sayed Gereige (Schlagzeug) und Anthony Atwe (Bass). Und nun gilt es zu ernten.

Im Progmetal-Gesamtkontext finden sich über die Gesamtspielzeit vereinzelt Samen von leicht dosiertem Jazz, swingenden Intermezzen, ein Besuch bei SANTANA, dem SPOCK wird am BEARD gezupft, ein einzelner growliger Schrei bricht mal die Ruhe auf und rabiate Riffs spielen gegen sanfte Gitarren – gewaltige Urkräfte gegen Harmonie, sozusagen. Stressfreier als THE MARS VOLTA aber ebenso einfallsreich und immer wieder diese wunderschönen Melodiebögen der wohlkingenden Stimme von Omar El Hage – alles darf, nichts muss.

Beim Opener ´Inside The Cage´ wartet man noch darauf, dass Charlie Dominici am Mikro einsetzt, es ereilt dich im weiteren Verlauf ein Gefühl von SYMPHONY X, doch auch GENESIS winken aus der gefühlvollen, virtuosen Melange heraus. Ein elfminütiger Einstand für die Ewigkeit, fabelhaft. Dagegen ballert ´Madness Unforeseen´ weitaus moderner weiter, das Bindeglied großer Melodien bleibt jedoch bestehen. ´Dreamless´ beendet die Achterbahnfahrt vorerst zart und voller Gefühl der Hogarth-MARILLION, genau wie gegen Ende der friedliebende, prog-hymnische ´Faceless Man´.

Es wird kunstvoll übergeleitet in ´Ignite´ als erneute Zündung modernen Progmetal und ja: Jetzt wird auch gegrowlt. Doch immer, wenn man befürchtet, dass sich TURBULENCE in bekannten Mustern verfangen, überraschen sie mit einem Kurswechsel wie hier in neoproggige Gefilde. Der nächste knallende Höhepunkt nennt sich ´A Place To Hide´, ´Crowbar Case´ erfindet den Prog-Reggae, und ´Perpetuity´ versprüht im Finale noch einmal seinen gesamten, betörenden Duft von gefühlvoll-harmonisch bis hochexplosiv-episch.

Für mich hätte es auf die Albenlänge von über einer Stunde mit Titeln aller Längen von 6 bis 11 Minuten gesehen ein bisschen weniger oft genretypisch zelebrierter Progmetal-Instrumental-Show-Off sein dürfen, da TURBULENCE ihre größten Stärken in gefühlvoll komponierten Parts ausleben, aber hey: Hauptsache ihr habt Spaß. Und ja, den habe ich – Mario liefert euch weiter unten die passende Punktezahl.

Less Lessmeister

 

 

Nach der Pleite mit Metal aus Kolumbien, war ich mir nicht sicher, ob es noch Prog aus dem Libanon sein muss. Doch, es muss sein. Wobei, die Herkunft ist da eigentlich egal. Es sollte einfach nur die Musik stimmen. Ja, lieber Less, ich sage mal so: für den einen Tipp gehörst Du geteert und gefedert (hey, ich erwähnte lediglich was von „Spass“ und „Wilde“ – Anm. des Geächteten). Hiermit hast Du ihn doppelt und dreifach ausgeglichen.

Ich könnte einfach die Ausführungen oben wiederholen. Das will aber sicher keiner lesen. Also fasse ich mich kurz und knapp. ´Frontal´ weckt bei näherer Betrachtung in mir Erinnerungen an damals, als ich ´Images And Words´ und ´The Light´ entdeckte. Noch nicht einmal unbedingt stilistisch. Aber die Wirkung, das Gefühl gleichen sich. Wie die beiden genannten, auch ´Frontal´ zündete nicht gleich beim ersten Mal. Da waren einige Durchgänge nötig, um es wachsen zu lassen.

Aber dann! Löst es körperliche und geistige Turbulenzen aus. Die Gänsehaut kommt unweigerlich und frontal von vorn. Obwohl Prog, der zuletzt oft als kalt und mathematisch verrufen wird, da steckt alles voller Gefühle. Wehmut, Melancholie, Zorn, Verzweiflung, gepackt in einen Ozean von fast 70 Minuten Musik. Immer neues, pendelnd zwischen Ruhe und Ausbruch, Stille und Rabatz.

In Anbetracht der Lage im Bürgerkriegsland Libanon erstaunt mich am meisten, dass TURBULENCE Zeit hatten, den Ort, das Geld, ja die Möglichkeit, diese wunderbaren Klänge entstehen zu lassen. Eher würde ich aus solch einem Land wütende Punk- oder Thrash-Attacken erwarten.

Einzig eines vermisse ich. Gerne würde ich die Herkunft hören, Klänge der Levante, Sounds des Nahen Ostens. Ein paar orientalische Spritzer, etwas Exotik würden TURBULENCE gleich auf eine eigene Stufe stellen. Die ist aber nicht so unerreichbar hoch, darum ist das Jammern auf hohem Niveau.

(9 Punkte)

Mario Wolski

 

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