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JETHRO TULL – The Château D’Hérouville Sessions 1972

~ 2024 (Parlophone Records) – Stil: Prog Rock ~


Ein verlorener und entmumifizierter Klassiker.

Nachdem JETHRO TULL mit ´Thick As A Brick´ den Klassiker unter den Konzeptalben veröffentlich hatten und auf Platz eins der US-amerikanischen Billboard-Charts gelandet waren, befanden sie sich im Sommer 1972 auf ihrem bisherigen Karrierehöhepunkt und spielten in den größten Stadien der Welt.

Dieses 44-minütige Musikstück des fiktiven Schülers Gerald Bostock war fortan schwer zu übertreffen. Erstmals in unveränderter Besetzung versuchten sie es mit einem klassischen Doppelalbum, doch die Auswahl des Studios wurde zu ihrem eigenen Verhängnis.

Da der Spitzensteuersatz in England zu diesem Zeitpunkt über 80 Prozent betrug, wollte sie gleichzeitig ihren britischen Wohnsitz aufgeben und entschieden sich für das mit Wohnräumen ausgestattete Studio „Château d’Hérouville“ in der Nähe von Paris. Selbst Elton John, David Bowie, Cat Stevens und PINK FLOYD hatte hier bereits aufgenommen, so dass nach fast ununterbrochener sechsmonatiger Tournee nichts gegen den Einzug im „Château d’Hérouville“ sprach.

 

 

Unglücklicherweise mussten Ian Anderson (Flöte, Akustikgitarre, Saxophon), Martin Barre (Gitarre), Jeffrey Hammond-Hammond (Bass), Barriemore Barlow (Schlagzeug) und John Evan (Keyboards) von Beginn an mit technischen Defekten („Es gab ständig Geräteausfälle“, „die Ausrüstung war kaputt“ oder „die 24-Spur-Maschine falsch verkabelt.“) und hygienischen Zuständen („Die Band schlief komplett in einem Schlafsaal – mit Bettwanzen.“) kämpfen. Jemand bekam eine Parasiteninfektion und alle eine Lebensmittelvergiftung.

Obwohl sie mittlerweile eine Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz erhalten hatten, beschlossen sie nach den ersten katastrophalen Wochen in Frankreich, einen Schlussstrich unter die Steuerflucht und die bisherigen Aufnahmen zu ziehen. Jeder der Beteiligten wollte diese Erfahrungen so schnell wie möglich vergessen und setzte alles auf einen Neubeginn.

Dementsprechend wurden die Château-Tapes in all den Jahren und Jahrzehnten danach zum verlorenen Album der JETHRO TULL-Historie. Weil jedoch Anteile der Musik in die Alben ´A Passion Play´ und ´War Child´ eingeflossen waren, geriet der Aufenthalt im von den Musikern im Nachhinein süffisant bezeichneten „Château D’isaster“ nie in Vergessenheit.

Während sich einige überarbeitete Abschnitte in Kompilationsalben wiederfanden, wurden die Originalbänder der Château-Tapes erst für das 2014 veröffentlichte Box-Set ´A Passion Play: An Extended Performance´ von Steven Wilson aufpoliert. Jetzt, weitere zehn Jahre später, erscheinen die Château-Tapes erstmals als eigenständige Veröffentlichung und endlich in ihrer Gänze auf Vinyl, auf schwarzem Doppel-Vinyl in dem Remix von Steven Wilson, ohne die nachträglich hinzugefügten Flöten-Overdubs von Ian Anderson bei einigen der Château-Songs innerhalb der ´20 Years Of Jethro Tull´-LP-Box und der ´Nightcap´-Double-CD. Ian Anderson hatte bekanntlich bei früheren Teil-Veröffentlichungen an einigen Stellen von Château-Songs ohne Gesang frische Flötenbeiträge nachträglich hinzugefügt.

Die originalen, von Steven Wilson gemischten 16 Tracks füllen somit die Seiten eins bis drei der ersten separaten Veröffentlichung unter dem Titel ´The Château D‘Hérouville Sessions 1972´, während die vierte Seite einige der Aufnahmen in der Form enthält, wie sie auf späteren Werken der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

 

 

´The Château D’Hérouville Sessions 1972´ ist ein unvollendeter Klassiker geworden, der trotz seiner Dreiseitigkeit als Doppelalbum bemerkenswert konsistent ist.

Die erste Seite fließt ohne Bruch (von ´Scenario´ zu ´Audition´) mit großartigem Gitarrenspiel voran oder von einem zarten (´Skating Away On The Thin Ice Of The New Day´) zu einem akustisch brillanten Highlight (´Sailor´), überraschend mit wenig Flöteneinsätzen, aber einem außerordentlich großartig aufspielenden Martin Barre. Massive Orgel- und Gitarrenklänge bilden den Heavy-Abschluss der Seite eins (´No Rehearsal´).

Irritierende Babygeräusche leiten die Seite zwei und eine nochmals düstere sowie Heavy-Stimmung ein (´Left Right´). Das komplette Gegenteil ist das sich anschließende Akustikgitarrenstück (´Only Solitaire´), himmlisch und nicht von dieser Welt. Die zweiteilige Abschlusskomposition der zweiten Seite (´Critique Oblique´) zeigt sich über neun und fünf Minuten in beiden Welten, aber überwiegend in der filigran kraftvollen und harten Darbietung.

Weitere Zweiteiler eröffnen (´Animelee´) und beenden (´Law Of The Bungle´) die dritte Seite des Vinyls. Ersterer ist ein beschwingter Folksong mit einer mittelalterlichen Stimmung, der peu à peu seine progressiven Rock-Kräfte ausspielt. Zweiterer ist mit Klavierbegleitung nochmals ein folkloristisch angehauchter, harter Rock-Song, mit ausgiebigem Orgel- und Gitarren-Einsatz im zweiten Teil. Dazwischen ist noch ein satirisches Lied (´The Story Of The Hare Who Lost His Spectacles´), das Jeffrey Hammond-Hammond vorträgt, sowie ein humoristisches, echtes Lied (´Tiger Toon´) zu hören.

´The Château D’Hérouville Sessions 1972´ ist für Vinyl-Sammler, für Vinyl-Hörer der goldenen Jahre des Progressive Rock sowie konservative JETHRO TULL-Liebhaber unverzichtbar.

(Klassiker)

 

 

Ian Anderson – Gesang, Flöte, Akustikgitarre, Saxophon
Martin Barre – E-Gitarre
John Evan – Piano, Organ, Synthesizer
Jeffrey Hammond – Bass
Barriemore Barlow – Drums, Percussion

 

https://www.facebook.com/officialjethrotull