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CHELSEA WOLFE – She Reaches Out To She Reaches Out To She

~ 2024 (Loma Vista) – Stil: Songwriter/Electronica ~


Sie streckt die Hand aus. Sie streckt die Hand nach ihr aus. Sie streckt die Hand nach ihrem Gegenüber aus und bittet um Versöhnung. Sie streckt die Hand nach sich selbst aus und wirft in einem Selbstfindungsprozess allen Ballast aus alten Tagen ab.

Chelsea Wolfe veröffentlicht, nachdem sie diese Lebensphasen durchlaufen und mittlerweile der Alkoholabstinenz zugesprochen hat, ihr siebtes Studioalbum. Somit ist ´She Reaches Out To She Reaches Out To She´ ein Neuanfang, der musikalisch an ihr 2015er Werk ´Abyss´ anschließt.

Die Singer-Songwriterin gibt sich vollständig der Finsternis hin und lässt mit synthetischen Mitteln die Elektronik über ihren Folkrock fließen. Die originären Folk- und Akustiksongs fehlen also diesmal gänzlich, doch dafür übernehmen die elektronischen Elemente zwischen Klavier und Streichern die sanfte Herrschaft.

In den ungewohnten Tagen der Nüchternheit finden insofern neben Gothic Rock auch Industrial und Trip-Hop ihren Einzug in die Soundlandschaften von Chelsea Wolfe, die die US-Amerikanerin gemeinsam mit Produzent Dave Sitek (TV ON THE RADIO) aufkratzend gemalt und gezeichnet hat. Mit den ständigen Adjutanten Ben Chisholm, Bryan Tulao und Jess Gowrie aufgenommen, feiert Chelsea Wolfe in ´She Reaches Out To She Reaches Out To She´ ihre Wiedergeburt als experimentelle Singer-Songwriterin.

 

 

Sie streckt die Hand, sie streckt die Hand nach dem Hörer aus und zieht ihn in die Abgründe ihrer Vergangenheit. Gesprochene Poesie („Ich badete im Blut dessen, der ich einmal war.“) muss industrielle Schläge ertragen, wenn die Vergangenheit gekappt wird (´Whispers In The Echo Chamber´) und die Monster aus dieser noch hochkriechen wollen.

Jetzt fängt der Höllenritt allerdings erst richtig an, schnell, wild und trippig (´House Of Self-Undoing´) wird ihre Hexenkunst sichtbar („Ich bin stark dämonisiert.“). Sie beginnt zu schweben, aber nicht zu schweigen, über allem, der Vergangenheit und der Gegenwart (´Everything Turns Blue´), elektronisch, hypnotisch und triumphalistisch („To smoke, to dance, to fly; to breathe into the night; It falls and everything turns blue; to fuck, to feel the same in the end; to hurt, to steal, you were so unreal.“).

Von Lebenszyklus zu Lebenszyklus hüpft sie („Versuche nicht aufzugeben. Der Weg führt durch Tunnellichter.“), pulsierend, bedrohlich und hämmernd mit Klavier und Elektronik, geradezu überirdisch (´Tunnel Lights´). Gedämpft ist die Stimmung zwischen den Dimensionen eher selten (´The Liminal´). Dann hüpft Chelsea Wolfe in der Nacht wie eine Schamanin zu dunklen Einschlägen im Zirkelkreis und das Lied wird zu einem echten Ritual (´Eyes Like Nightshade´). Spätestens jetzt hat die Dunkelheit von allen Besitz ergriffen und torkelt hypnotisiert dem nächsten Höhepunkt entgegen (´Salt´).

Selbst in der Halle, in der sich Licht und Schatten vereinen, werden die Rhythmen weiter geschlagen (´Unseen World´), ehe die Schamanin aus der Fiebrigkeit des Ichs langsam alles hinter sich lassen und davonfliegen will (´Place In The Sun´). Zur Reinigung und zum Neuanfang („Während es brennt und sich auflöst.“) wird letztlich ein großes Feuer benötigt, um alles restlos niederzubrennen (´Dusk´). Und so heißen die letzten Direktiven: „Gib mich nicht auf, ich werde durch das Feuer gehen.“

Und sie streckt die um Hilfe ringende Hand aus.

(8,5 Punkte)

 

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Pic: Ebru Yildiz