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REINHARD MEY – Nach Haus

~ 2024 (Odeon/Universal Music) – Stil: Singer-Songwriter ~


»Wo gehn wir denn hin?« stellte Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, als Schriftsteller und Philosoph besser bekannt unter dem Namen Novalis, fragend in den Raum und beantworte die Problematik in seinem Werk „Heinrich von Ofterdingen“ gleich selbst: »Immer nach Hause.«

Doch was besagt »nach Hause«? Das Land der Eltern oder schlicht der Ort der eigenen Kindheit? Umfasst Zuhause nicht ebenso ein warmes Gefühl des Behütetseins und des Friedens? Oder sehnt sich unsere Seele schlicht nach dem Quell allen Lebens? Zuhause ist in gleichem Maße Vergangenheit und Zukunft, unser Alpha und Omega.

Reinhard Mey zitiert auf dem Deckel, auf der Rückseite seines sage und schreibe 29. Albums eben diese Worte von Novalis und schreibt sie uns ins Stammbuch. Dabei besiegelt das neueste Studioalbum ´Nach Haus´ weder das Ende der Karriere des Künstlers noch ist es ein finaler Abschied, nur ein weiterer Schritt auf dem Weg nach Haus.

Der Singer-Songwriter, der keine Biografie benötigt, weil er an dieser seit seiner Debüt-Veröffentlichung im Jahre 1967 kontinuierlich mit jedem weiteren Lied selbst schreibt, begleitet inzwischen das Leben von Generationen an Musikhörern.

Nachdem sich sein zweijähriger Veröffentlichungsrhythmus in den Achtzigerjahren ab Mitte der Nullerjahre auf drei Jahre erhöht hatte, um sich nun langsam auf vier Jahre einzupendeln, bleibt sich Reinhard Mey einige Monate nach seinem 81. Geburtstag erst recht treu und verschont seine Zuhörer mit jeglichem unnötigen Firlefanz des Zeitgeistes.

Er liebt es derzeit, einige Geschichten ausführlich zu erzählen, aber auch künftige Evergreens prägnant vorzutragen. Nicht nur sein Leben dient ihm dabei als Vorlage, singt er doch mit gewohnt scharfer Beobachtungsgabe ebenso über das des Einzelnen.

Die Sehnsucht nach seiner Heimat, nach seinem eigenen Ich, lässt Reinhard Mey in einem flüchtigen Blick aus der Gegenwart in die eigene Kindheit unter märkischem Sand des Eröffnungstitels ´Das Raunen in den Bäumen´ durchblicken und konstatiert die Weisheit, dass Glück meist erst im Nachhinein sichtbar wird. Denn ´Nichts ist für immer´ singt er als künftigen Evergreen samt Flöte und weitere Weisheit zum Abschluss der ersten Vinyl-Scheibe.

In der Zwischenzeit rollt er in der Komposition ´Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden´ über beinahe acht Minuten die Geschichte der letzten 35 Jahre seit dem Mauerfall in seinem heimatlichen Berlin gemütvoll, aber keineswegs reißerisch auf. Er legt nochmal den Finger in die Wunde der unheimlich schauderhaften Willkür und der Unfreiheit des einstigen ostdeutschen Staates, betont den beharrlichen Widerstand bis zum Mauerfall und begreift die nicht gelebte Gegenwart in den Jahren hernach. Gleichwohl spricht er nach dem schweren Wandel nunmehr Zuversicht aus.

Mit Mandoline, Klarinette und Akkordeon versetzt er sich hingegen in die Rolle eines gefallenen deutschen Soldaten im Russland des Zweiten Weltkriegs. ´Verschollen´ ist sein melancholisches Antikriegslied über einen von einem Bombensplitter erfassten Soldaten, der weder in diesen Krieg noch in dieses gottverlassene Land wollte. Während seine Brüder, einer ohne Gehör, einer ohne Verstand heimkehrten, verblieb seine Leiche im fremden Land.

Ein persönliches ´Gute Nacht, Freunde´ für einen alternden Gastwirt und dessen hoffentlich aller letzte Saison ist die siebenminütige Geschichte ´Beef und Lobster´ samt Akkordeon. Eine wunderbare Erzählung trägt er demgegenüber acht Minuten lang samt Ukulele und Akkordeon über einen jahrhundertealten, prunken Familienholztisch vor, der über Jahrzehnte hinweg am ganzen Familienleben teilnahm. Um diese eigentlich bereits bei ihrem Erwerb dem Titel ´Questo Tavolo Non Si Vende´ zufolge unverkäufliche Familientafel versammelt sich letztlich die Familie Mey und singt im Chor.

Auf der zweiten Vinyl-Scheibe werden hier und da sogar einige Überraschungen präsentiert. Mit dem sozialkritischen Liedermacher Hannes Wader singt Reinhard Mey zu Gitarre und Bouzouki das Lied ´Zwei Musketiere´, dessen Text von Mey an Wader zu dessen 80. Geburtstag („Dein Lied war mein Lied und dein Lied war meins.“) und dessen Musik von Wader an Mey ebenfalls zu dessen 80. Geburtstag im selben Jahr überreicht worden war. Ein weiteres, äußerst erstaunliches Duett bestreitet er im weiteren Verlauf mit seinem Schwiegersohn Matthew Pearn im auf Englisch vorgetragenen Song ´Black And White 1945´ aus der Feder von Ross Brown und Mike Silver.

Feinsinnig besingt er zu Gitarren und Flöten in ´Die Legende von den Liebenden´ eine beinahe lebenslange Zuneigung von Mann und Frau. Der annähernd 50 Jahre währenden Liebe zu seiner Ehefrau Hella widmet er das von einer Harfe begleitete Liebeslied ´Du hast mich getragen´, welches ihn zu der Erkenntnis gelangen lässt, dass selbst der Tod ihre Liebe nicht aufzehren wird.

Den Bericht zur Lage der Nation liefert er mit dem auch so benannten ´Lagebericht´ ab, zu Gitarre und sachter Elektronik. Mit nochmals sanfter Elektronik zum Klavier singt er jedoch das dramatische und sechsminütige Tierschutzlied ´Miserere Mei´.

Der Liedermacher mit Pilotenlizenz führt mit dem Song ´Du kannst fliegen´ nicht nur textlich die Freude an der Fliegerei wie einst bei ´Über den Wolken´, sondern insbesondere ´Lilienthals Traum´ aus 1996 mit großem Orchester fort, nunmehr mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg, und spricht bei aller Hoffnungslosigkeit im Leben Mut zu. Mit der Unterstützung des Babelsberger Filmorchesters und Ulla van Daelens Harfenklängen zelebriert er in aller Schönheit die feine Komposition ´Schlendern´ von Konstantin Wecker, samt der noch nicht ganz Novalis würdigen Textzeile: „Lieber mit den Wolken jagen, statt sich mit der Zeit zu plagen“.

Dieser deutsche Frühromantiker schrieb einst die Zeile „Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß wie Wolken schmecken.“ Passend zu solchen Zeilen und Versen rezitiert Reinhard Mey zu guter Letzt in ´Nota Bene´ zur Musik von Georg Friedrich Händel über die unvollendete Lyrik seiner Geistesblitze sowie seine in Notizen niedergeschriebenen Gedankengänge, die eines Tages aus seinem untersten Schreibtischfach, aus seinem Zuhause ans Tageslicht gelangen werden.

Die zum gegenwärtigen Zeitpunkt kostbarsten Zeilen aus dem jüngsten Leben von Reinhard Mey nehmen wir von daher in Form des neuen Studioalbums auf Vinyl zu uns mit ´Nach Haus´.

(Klassiker)

 

 

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