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GENESIS – The Lamb Lies Down On Broadway

~ 1974/2023 (Analogue Productions/Atlantic 75 Series) – Stil: Prog Rock ~


Bei der Erarbeitung des Nachfolgers zu ´Selling England By The Pound´ standen GENESIS abermals unter immensem Druck. Obwohl sie mittlerweile ausgiebige und strapaziöse Tourneen absolvierten, zwischenzeitlich spielten sie bis zu zweihundert Shows pro Jahr, war bereits in dem Monat nach Abschluss ihrer Europa- und Nordamerika-Tournee für drei Monate das „Headley Grange“ auf dem Lande im Südosten von England gebucht.

Die Probleme wurden allerdings vor Ort nicht geringer. Das Anwesen war von Ratten bevölkert und alle Bandmitglieder hatten alles andere im Sinn, nur nicht neue Lieder zu schreiben. Sie waren inzwischen verheiratet oder geschieden und hatten Kinder. Das Verständnis für die Probleme des anderen wurde jedoch geringer. Selbst als Peter Gabriel des Öfteren nach London fahren musste, um seiner ersten Frau bei der schweren Schwangerschaft und Geburt ihres ersten Kindes beizustehen.

Derweil kamen die Bandmitglieder überein, ein Doppelalbum sowie ein Konzeptalbum zu produzieren. Mike Rutherford schlug eine auf dem Roman „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry basierende Handlung vor.

Sänger Peter Gabriel wollte allerdings seinen romantischen Erzählstil hinter sich lassen und ersann eine zeitgemäße Geschichte über einen puertoricanischen Jugendlichen namens Rael. Daneben beschloss Peter Gabriel, den bisher demokratischen Schreibprozess zu beenden. Er beanspruchte die alleinige Kontrolle über die Geschichte und die Texte. Die Kompositionen wiederum sollten die anderen Bandmitglieder nahezu alleine ausarbeiten.

Die Aufnahmen fanden schließlich mit einem mobilen „Island Studio“ auf dem Anwesen „Glaspant Manor“ im Südwesten von Wales statt. Sie experimentierten dort sogar mit einigen Aufnahmen in einem Badezimmer und in einem Kuhstall.

Unter diesen Voraussetzungen schien es einem Wunder gleichzukommen, das GENESIS mit ihrem sechsten Studioalbum ihre klassische Bandphase krönen sollten. Doch gerade weil sich das Album in Komposition und Sound gegenüber seinen Vorgängern abgrenzte, gedieh die Geschichte über einen Stricher und Straßengangster zu einem schöpferischen Höhepunkt des Progressive Rock.

´The Lamb Lies Down On Broadway´ wurde ein Meilenstein der Rockmusik, ihr erstes Doppelalbum und das erste mit einer durchgehenden Erzählung.

Dieses Insel-Album erscheint derzeit zum 75-jährigen Jubiläum von „Atlantic Records“ wieder auf Vinyl. Dem haben sich „Analogue Productions“ angeschlossen und veröffentlichen die Scheibe ihrerseits auf einem 180g schweren Vierfach-Vinyl mit 45 rpm, natürlich gepresst bei „Quality Record Pressings“, vom analogen Original-Masterband von Chris Bellman gemastert, in einem aufklappbaren Tip-on Gatefold Double-Pocket Jacket.

Die bekannte Zusammenarbeit von „Acoustic Sounds“, „Analogue Productions“ und „Quality Record Pressings“ führt zu diesem unglaublichen Sound, der diese Pressung gegenüber den bislang bekannten eine Nasenlänge voraus klingen lässt und den Zuhörer scheinbar direkt neben den Künstlern auf dem Broadway in New York City platziert.

´The Lamb Lies Down On Broadway´, mit einem Cover-Design von der bekannten Agentur „Hipgnosis“, ist eine echte Lebensodyssee und ein echter Seelentrip. Die vieldeutigen Texte und verworrenen Handlungsstränge machen es zu einem Glanzstück der Assoziationen. Selbst der zweiseitige Einführungstext macht alles nur noch unklarer, geheimnisvoller und bizarrer.

Die nunmehr acht schnellen Vinyl-Seiten durchlaufen bei allen Metaphern eine Rockmusik der einfachen, der eingängigen, der hektischen, der improvisierten, der innovativen und der epischen, der sehnsuchtsvollen und melancholischen Stimmung. Erst in seiner Gesamtheit wirkt das 23 Songs lange, stimmungsreiche und vielfältige Konzept komplex, während die erste Hälfte dichter sowie einladender und die zweite Hälfte ausladender in der Melodieführung erscheint.

 

 

They say the lights are always bright on Broadway. They say there’s always magic in the air.

Bevor Manhattan am frühen Morgen erwacht, kommt der Protagonist Rael mit einer Spraydose aus der U-Bahn-Station am Times Square gelaufen. Die Melodie von ´The Lamb Lies Down On Broadway´ ist übergroß. Schließlich befinden wir uns im Theaterviertel von Manhattan. Und dort liegt das Lamm begraben, in Form einer Metapher. Wie Fliegen von Windschutzscheiben wird Rael in dem sanften und bedrohlichen ´Fly On A Windshield´ von einer, in Form eines Bildschirmes auftauchenden Wolke angezogen und aufgesogen. Er lernt dabei die Welt am Broadway kennen, die politische und kulturelle Landschaft der Siebzigerjahre, etwa Ku-Klux-Klan, Groucho Marx, Lenny Bruce sowie Howard Hughes, und im Sinne des Musikfilms „The Broadway Melody“ von 1929 erklingt die ´Broadway Melody Of 1974´.

Als Rael aus seinem Traum wieder zu erwachen scheint, befindet er sich in einem ´Cuckoo Cocoon´. Somit mutet es sich zwar schön wonnig warm an, aber gleichwohl ist er im Kokon gefangen. Als er ein weiteres Mal erwacht, realisiert er indes die Höhle, seinen eigenen Käfig und viele Menschen in vielen Käfigen. Er befindet sich nämlich im gruselig wundersamen ´In The Cage´ und beobachtet, wie sein Bruder John auf ihn zugeht, jedoch ohne ihm zu helfen, ohne ihn zu beachten. Der Käfig mag insofern eine Metapher für das gesellschaftliche Gefängnis eines jeden einzelnen Menschen sein, das niemand durchbricht und in das jeder mit Geburt unfreiwillig einzieht, aber im Speziellen eine Anspielung auf das „Höhlengleichnis“ des griechischen Philosophen Platon.

Rael verfolgt unterdessen das Leben seines Bruders John, wird in ´The Grand Parade Of Lifeless Packaging´ durch die Gänge einer Fabrik geführt, in der Menschen in Kisten verpackt werden und John die Nr. 9 ist. Die Gedanken schweifen ab und Rael ist wieder in Manhattan, in einem aggressiveren Tonfall ´Back In N.Y.C.´. In ´Counting Out Time´ erinnert er sich an seine dortige, erste sexuelle, aber allzu erfolglose Begegnung. Dagegen beschreibt das romantische ´The Carpet Crawlers´ die Hilflosigkeit des Menschseins, auf der Suche nach dem höheren Sein.

 

 

Im ´The Chamber Of 32 Doors´ erhält Rael unzählige Ratschläge von unzähligen Menschen, bis er diese nicht mehr hören kann. Bei der Suche nach dem Ausgang, aus diesem Kabinett des Grauens, trifft er ´Lilywhite Lilith´, eine hellhäutige und blinde Frau, die ihn jedoch in einem dunklen Raum, im psychedelischen ´The Waiting Room´, alleine zurücklässt. Er nimmt die durchaus ernste Lage im wunderbaren ´Anyway´ angespannt und dennoch gelassen hin. Den Tod vor Augen trifft er den Sensenmann in ´Here Comes The Supernatural Anaesthetist´ in persona.

Nun wollen ihn ´The Lamia´, als Dämon der griechischen Mythologie bekannt, tatsächlich verschlingen. Doch diese Gedanken sind nur böse Ängste, rein sexueller Natur, so dass es Zeit für die lustige ´The Colony Of Slippermen´ wird. Hier haben sich die Menschen aufgrund ihrer sexuellen Handlungen in Fleischklumpen verwandelt. Rael bleibt jedoch von diesen fleischklumpigen, sexuell übertragbaren Krankheiten verschont, soll allerdings kastriert werden. Seine abgetrennten Genitalien landen in einem offenen Behälter und werden urplötzlich von einem angeflogenen Raben gestohlen. Auf seiner Flucht lässt der Rabe während seines Fluges sein wertvolles Diebesgut in einen rauschenden Fluss fallen.

Rael gelangt bei seiner Verfolgung in die entsprechende Schlucht, in die ´Ravine´, und entdeckt dabei seinen Bruder John in den Stromschnellen, aber zugleich ein Lichtportal zurück nach Manhattan, es zeigt ihm ´The Light Dies Down On Broadway´. Selbstlos wirft er sich jedoch in die Fluten, ´Riding The Scree´, und kann seinen Bruder noch retten. ´In The Rapids´ zieht er John aus dem Wasser, schaut in dessen bewusstloses Gesicht und erkennt sich augenblicklich selbst in diesem. Er schaut auf sich selbst und erblickt die gute Seite seines eigenen Ichs. Rael erlebt seine Offenbarung. „It is here, it is now. It is real.“

 

 

„It“ ist scheinbar vieles, aber wohl wahrhaftig die Erleuchtung. Im finalen ´It´ fallen 32 Beschreibungen von „It“, also 32 Türen als erwägenswerten Ausgang im Leben. Nur, welche Tür ist die richtige?

 

Epilog: Peter Gabriel singt nach anderthalb Stunden ´The Lamb Lies Down On Broadway´ in den aller letzten Sekunden als Hommage an die ROLLING STONES: „It’s only knock and know all, but l like it.“

Während der sich anschließenden Tournee teilte Peter Gabriel der Gruppe mit, dass er nach Abschluss aller Live-Auftritte GENESIS verlassen werde. Gegenüber der englischen Musikpresse gestand Peter Gabriel in einer persönlichen Erklärung seine Beweggründe, mehr Zeit mit seiner Familie verbringen zu wollen und in der Musikbranche alle Illusionen verloren zu haben.

Möglicherweise nahmen die anderen Bandmitglieder diese Entscheidung erleichtert auf, da sie den Eindruck nicht los wurden, sie würden in der Öffentlichkeit nur als die Begleitband ihres außergewöhnlichen Leadsängers angesehen werden. Denn obwohl sie innerhalb der Gruppe alles gemeinschaftlich entschieden, war die öffentliche Vorstellung scheinbar eine andere.

Der Progressive Rock befand sich zumindest mit ´The Lamb Lies Down On Broadway´ auf dem Höhepunkt seiner gesamten Epoche, mit einem niemals langweilig werdenden Werk, das nur in seiner Gesamtheit gehört und geliebt werden kann. I like it.

(Klassiker)

 

 

 

Peter Gabriel – Gesang, Flöte
Tony Banks – Hammond Organ, Mellotron, Piano
Steve Hackett – Elektrik/Akustik Gitarre
Mike Rutherford – 12-String Gitarre, Bass
Phil Collins – Drums, Percussion

 

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