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WILCO – Cousin

~ 2023 (dBpm Records) – Stil: Alternative Rock/Avant Pop/Experimental ~


WILCO verbrachten viele Jahre damit, das „Americana“-Etikett loszuwerden, das ihnen seit Beginn ihrer Karriere anhaftete, bevor sie es schließlich mit einer energischen Umarmung auf dem Album ´Cruel Country´ vom letzten Jahr wieder aufnahmen. Das Werk wirkte gleichzeitig proaktiv wie reaktionär und stellte die Country-Musik auf den Kopf und seitwärts, und Jeff Tweedy und Co. klangen darauf wieder weit organischer als zuvor und bei weitem nicht mehr so experimentierfreudig.

´Cousin´ bleibt der experimentelleren Form nun wieder weitestgehend treu und schlägt einen anderen Weg in der Band-Karriere ein, und auch wenn die scharfen Linkskurven und Klangautobahnen von Alben wie ´Yankee Hotel Foxtrot´, ´A Ghost Is Born´ und ´The Whole Love´ den Überraschungsfaktor etwas gemildert haben, so liegt der größte Reiz nach wie vor darin, dass keines ihrer Alben wie das vorherige klingt.

Dreizehn Longplayer und etliche Besetzungswechsel liegen nun bereits hinter den sechs Chicagoern, und Tweedy setzt auf ´Cousin´ nun also erneut seinen Stetson-Hut in Richtung eines weit vielschichtigeren und vielseitigeren Sounds auf. Etwas unterkühlt, aber auch höchst souverän, diesmal mit Unterstützung der walisischen Singer-Songwriterin Cate Le Bon bei der Produktion, ist es WILCOs emotionalstes und zugleich kompositorischstes Album seit langem.

 

 

Das Album strahlt Zwietracht und Harmonie aus, klingt sowohl geräumig als auch gesättigt, und schon im Opener ´Infinite Surprise´ rollen Klangtexturen und Verzerrungen wie Donner auf und ab und wirken im gesamten Song beunruhigend gebrochen. Tickenden Uhren, Herzschlag-Percussion und Umgebungssummen sorgen hier zudem für einen langsamen Aufbau, und die Band scheint zurück zu sein in ihrem vertrauten Post-´Yankee Hotel Foxtrot´-Territorium.

´Pittsburg´ enthält ebenfalls ein langes, dramatisches Intro, obwohl es vor allem der Mittelteil ist, der hier hervorsticht. Die Hintergrundstimmung in diesem Abschnitt nimmt eine dunklere, unheimliche Qualität an, da sie langsam die vergleichsweise hellere Melodie verschluckt und ein kontrolliertes Chaos aus scharfem Klavier und Synthesizern hinterlässt. Das Stück kehrt schließlich zu seiner bloßen Schlichtheit zurück, obwohl die gedämpfte Atmosphäre einen Kontrast zum schweren Beat bildet und der Musik eine rätselhafte, langsam brennende Anziehungskraft verleiht.

´Meant To Be´, zweifellos einer der mitreißendsten Songs des Albums, behandelt dann erneut das Kernthema von ´Cousin´ auf eine besonders eindringliche Weise, nämlich den Zustand der menschlichen Existenz vor oft unüberwindbaren Hürden zu bewahren. Die Musik, die sich hauptsächlich auf dem Avant Pop-Spielplatz bewegt, den WILCO in den letzten zwei Jahrzehnten durchquert haben, passt zu der manchmal verzweifelten, oft aber auch hoffnungsvollen Stimmung ganz hervorragend.

´Cousin´ ist voller Unsicherheit, scharfer Riffs und tiefgründiger Reflexionen über die eigene Beziehung zu sich selbst und zur Welt. Es vermittelt uns ein Gefühl, das zugleich von Distanziertheit, Momenten der Selbstbeobachtung, gelegentlichen Hoffnungsschimmern, aber auch stets von einer tiefen Sehnsucht nach Zugehörigkeit geprägt ist. Ein mehr als solides Album und von gewohnt hoher Qualität.

(8 Punkte)

 

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Pic: Zoran Orlic