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PETER GABRIEL – I/O

~ 2023 (Real World/EMI/Republic) – Stil: Artpop ~


In Zeiten, in denen die musikalische Vergangenheit meist wie eine schwere Bürde auf den gegenwärtigen Versuchen lastet, veröffentlicht Peter Gabriel sein erstes Studioalbum mit neuen Kompositionen seit über zwanzig Jahren.

Derweil seine unübertroffenen Großtaten als Sänger von GENESIS, ´Selling England By The Pound´ (1973) und ´The Lamb Lies Down On Broadway´ (1974), in diesen Tagen auf 45rpm-Vinyl und somit im bislang ungehörten audiophilen Genuss wiederveröffentlicht werden, will sich Peter Gabriel ein weiteres Mal als Solo-Künstler beweisen. Während die alten Tage zu Hochzeiten des Progressive Rock stattfanden, präsentiert sich der mittlerweile 73-jährige Sänger gegenwärtig in einer immer gesichtsloseren Pop-Welt.

Nach der experimentellen Tetralogie seiner ersten vier Solo-Werke, bei denen er spätestens mit dem dritten Glanzlicht zu seinem später unverkennbaren Stil fand, folgte die Trilogie mit den mehr oder weniger populären Meisterwerken ´So´ (1986), ´Us´ (1992) und ´Up´ (2002). Sein nunmehr neuestes Studioalbum hatte Peter Gabriel bereits vor weit über zwanzig Jahren mit dem vorläufigen Titel ´I/O´ versehen. Eine etwa 18 Monate nach ´Up´ angedachte Veröffentlichung verschob sich jedoch durch die ausgedehnten Tourneen. Jahrelang sprach der Meistersänger von 150 Songs bzw. 17 Songs, die bereits fast aufgenommen worden wären, doch erst 2022 folgten auf diese Aussagen auch endlich erste Taten. Ende 2022 gab es Ankündigungen für Tourneen und sogar der eigentlich bereits bekannte Name des Albums wurde preisgegeben. Der große Überraschungseffekt dieses großen Comebacks verpuffte allerdings bis zur endgültigen Veröffentlichung des Werkes, denn Peter Gabriel stellte bereits vorab, zwölf Monate lang, einen Song nach dem anderen zu Vollmond digital zur Verfügung.

Letztlich ist ´I/O´ eine Sammlung von zwölf Pop-Songs geworden, die aufgrund ihrer souveränen und ausgefeilten Darbietung bisweilen dem Artpop oder Artrock zugerechnet werden können, gerade weil sie manchmal mit schlichten Mitteln wie Flöte, Klavier und Cello die Melancholie jener alten Tage nochmals hervorzaubern. Ohne jegliches kommerzielles Kalkül hätten diese allerdings ebenso bereits in den Achtzigerjahren zu Gehör kommen können, wären sie nicht mit diesen frischen Mixen aus den Zwanzigerjahren der Gegenwart versehen worden.

Damit nämlich die immer noch zahlreiche Anhängerschaft gleich zwei Alben kaufen kann, erscheinen die 68 Minuten von ´I/O´ in einem „Bright-Side Mix“ von Mark „Spike“ Stent und einem „Dark-Side Mix'“ von Tchad Blake. In Dolby-Atmos existiert sogar noch ein dritter Mix, ein „In-Side Mix“ von Hans-Martin Buff.

Natürlich haben ihn seine alten musikalischen Begleiter wieder im Studio unterstützt, etwa Gitarrist David Rhodes, Bassist Tony Levin und Drummer Manu Katche oder Brian Eno.

Der Opener ´Panopticom´ ist dabei das Beste, was Peter Gabriel dieser Pop-Welt noch anzubieten hat, und zwar einen ausgefeilten Rhythmus zur Melodie, die sich im scheinbaren Höhepunkt nur von der Gitarre vertreten lässt, aber großartiger Weise eine nochmalige Steigerung nicht vergisst. Auch der luftige Groove der Percussions von ´The Court´ zielt immer wieder auf diesen kurzen Knalleffekt ab und überrascht mit einem Klavierspiel zum Ausklang im Sinne von Tori Amos. Die Klavierdarbietung im sinfonisch besonnen aufbegehrenden ´Playing For Time´ erinnert hingegen eher an Randy Newman.

Der eigentlich gleichsam ruhige Titelsong ´I/O´ leuchtet allerdings in seinem Höhepunkt in vollem Glanze mit dem Soweto Gospel Choir. Selbst ´Four Kinds Of Horses´ führt in seiner bedrohlichen Stimmung mit Streichern ans Licht. Dahingegen wirft ´Road To Joy´ den Gabriel’schen Funk in vollem Umfang sowie ´This Is Home´ poppig leicht ins Spiel.

´So Much´ ist eine dieser bedeutenden Balladen aus Peters Universum und ´Love Can Heal´ eine weitere, ganz und gar zarte. Den letzten freudigen Tanz spendiert er seiner Hörerschaft im ansonsten nachdenklichen Werk jedenfalls nochmals mit ´Olive Tree´, während ´And Still´ äußert besinnlich und versunken Peter Gabriels Abschied von seiner Mutter verarbeitet. Den Abschluss findet ´I/O´ ganz im Sinne der Achtzigerjahre mit einer großen Hymne zur Völkerverständigung. ´Live And Let Live´ gedenkt dabei mit einem Elektro-Groove und einem Beatles-Cello der vermeintlichen Weisheit von William Blake, Martin Luther King und Nelson Mandela.

Während sich die eingeschworene Anhängerschaft binnen der kommenden Jahre in das Werk einem Klassiker gleich einhören wird, sind mindestens 8,5 objektive Punkte gerechtfertigt. Ob jedoch die Weltgeschichte und insbesondere die der Menschheit noch weiterhin in mal mehr und mal weniger annehmbaren Bahnen verlaufen wird, dürfte sich in fünfzig Jahren zeigen, wenn Liebhaber ´I/O´ auf 45rpm-Vinyl genießen sollten.

 

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