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THE HALO EFFECT – Days Of The Lost

~ 2022 (Nuclear Blast Records) – Stil: Gothenburg Melodeath ~


Nun ist sie also endlich da, die erste Platte der fünf Göteborg-Veteranen, von denen jeder Einzelne bereits vor Jahrzehnten Melodeath-Geschichte geschrieben hat, vor allem gemeinsam bei der Band aus der Wiege des Subgenres, die heute die kommerziell erfolgreichste (und damit auch umstrittenste) ist: IN FLAMES. Lange miteinander befreundet, haben sie sich im gesetzten Alter nochmal zusammengetan, um das zu tun, was ihnen schon immer den meisten Spass bereitet hat: zusammen zu jammen und neue donnernde Riffs und geschmeidige Soli zu gleichzeitig aufrüttelnden wie die Ohren sanft einschmeichelnden Songs zusammenfliessen zu lassen, die Hitpotential haben und Headbanger weltweit begeistern. Und ganz klar, auch diesmal funktioniert die Formel, ganz unüberhörbar schlummerte da schon zuvor einiges an Ideen in den einzelnen Akteuren, was sich nun in der neuen Konstellation rasant und leidenschaftlich Bahn bricht, mitreisst und sowohl den Nostalgiker als auch den Neuling mitnimmt.

Denn bereits die zuvor veröffentlichten Songs haben deutlich gemacht, THE HALO EFFECT sind nicht nur die Erbverwalter des Trademarksounds der frühen 90er, sondern quasi die heutige Definition des Melodeath-Sounds, sie könnten mit ihrer frischen Interpretation, die trotzdem stets klassisch bleibt, eine mittlerweile leider etwas eingestaubte oder weit vom ursprünglichen Kurs abgekommene Stilrichtung in die Zukunft führen. Natürlich darf man dabei die zweite maßgebliche Band für dieses Projekt nicht unterschlagen, DARK TRANQUILLITY mit ihrer zum einen düsteren, zum anderen progressiveren Herangehensweise haben dem melodischen Deathmetal wichtige neue Impulse gegeben, Mikael Stanne prägt mit seinem Gesang und seinen Lyrics nun auch das neue Quintett.

 

 

Dessen Rhythmussektion kann bedenkenlos als blind aufeinander eingespielt bezeichnet werden, haben Peter Iwers am Bass und Schlagzeuger Daniel Svensson doch mehr als zwanzig Jahre lang zusammen für den Takt nicht nur bei IN FLAMES gesorgt, und nebenbei eine gemeinsame Brauerei gegründet. Der umtriebige Rush-Fan (´Halo Effect´…!) Iwers war schon zuvor Gastronom mit seinem 2112, hatte jedoch kürzlich auch zusammen mit Jesper Strömblad bei CYRAH gespielt.

Da hat es einfach gepasst, dass der einzige aktuell (noch) bei IF aktive Musiker, Gitarrist Niclas Engelin, Ende 2019 Stanne fragte, ob er mit ihm zusammen Musik machen wolle, so wie damals? Iwers kam kurz darauf hinzu, und Riffmeister Strömblad sowie Svensson folgten. Alles alte Freunde also, und gleichzeitig stilprägende Legenden, die zusammen Spass beim Jammen haben wollten. Doch dann kam Corona, und warf die Pläne ihrer sonstigen Bands über Bord, touren war nicht drin, also blieb viel Zeit für THE HALO EFFECT, die die Fünf gut genutzt haben. Dass die kreative Chemie zwischen genau diesen Individuen stimmt, zeigen Songs, die so frisch und unverbraucht klingen und gleichzeitig innerhalb des stilistischen Rahmens funktionieren, den Meisterwerke wie ´The Jester Race´, ´ The Gallery´ oder ´Slaughter Of The Soul´ definiert haben, und so knallen wie keine der altgedienten Bands es heutzutage schafft.

Das bärenstarke Riffgewitter ´Shadowminds´ hatte als Vorabsingle den Boden für den neuen Act bereitet und eröffnet nun folgerichtig das Debüt, um klarzustellen, um was es hier eigentlich geht – wer dazu weder spontan headbangen muss noch Luftgitarre spielt oder einfach nur tanzt, hat die 90er komplett verpennt und wird nun zumindest mit tränenfeuchten Augen aufwachen, wenn die Twingitarren singen wie einst im Mai. Mit enormem Drive eröffnet der Song ein Album, das produktionstechnisch natürlich auf der Höhe der Zeit agiert, die lange Erfahrung aller Bandmitglieder plus die Magie von Oscar Nilsson und Jens Bogren machen es möglich. Der Titelsong wiederum ist ein Paradebeispiel dafür, wie typisch schwedische Gitarrenmelodien ein Stück einleiten und dann im Wechsel mit pumpenden Riffs tragen, wie der NWoBHM-Einfluss auf Deathmetal-Growls trifft, die wiederum durch Keyboards unterfüttert sind. ´The Needless End´ erinnert mit seinem folkigen Start an AMORPHIS und besticht durch seine atmosphärische Dichte und dramatische Steigerung, bis er Gitarren und Bass viel Platz zum improvisieren lässt. ´Conditional´ beginnt nachdenklich, um dann in Hochgeschwindigkeit loszujagen, bis der Refrain alle einbremst und den Song im wütend bis melancholisch-komplexen ´Whoracle´-Stil weiterführt.

Überhaupt ist ständig Jesper Strömblads Handschrift deutlich zu hören, seine typischen hochmelodiösen und prägnanten Riffs und vor allem Twingitarrenläufe beamen einen zurück in die Glanzzeiten der von ihm 1990 gegründeten IN FLAMES, und als grosser Jesper-Fan, der stets verfolgt hat, wie es ihm geht, wie er seit Jahren erfolgreich gegen seine inneren Dämonen kämpft und mit seiner Suchterkrankung auch offen umgeht, freut mich besonders, dass er hier wieder eine musikalische Heimat gefunden hat, die ihm entspricht und Freunde, die auf seine manchmal noch eingeschränkten Möglichkeiten Rücksicht nehmen. Hier kann er der scheue Introvertierte, der immer schon lieber durch seine Musik sprach, sich wieder ausdrücken und damit auch weiter heilen. Die Rückendeckung durch seine Freunde wird ihm hierbei genauso helfen wie die Unterstützung durch seine Fans (wer mehr wissen möchte lese die Pressemitteilung der Band hierzu).

Weiteren Support erhalten die Schweden von der ehemaligen Fan- und nun Nachfolgegeneration, Matt Heafy von TRIVIUM steuert bei der von Streichern eingeleiteten Hymne ´Last Of Our Kind´ Gastvocals bei und zeigt, wie gross der Einfluss der damaligen Pioniere in der Metalszene war und ist. ´Feel What I Believe´ ist vielleicht der ehrlichste Song, nicht nur was die beeindruckenden Lyrics von Frontmann Mikael Stanne angeht, dessen Gesangsleistung ihn auf der Höhe seines Könnens zeigt, sei es growlend oder mit Klargesang, er regiert die Songs ohne sich in den Vordergrund zu spielen – so wie der Sound generell sehr ausgewogen ist und jedem Akteur seinen Raum lässt. ´Gateways´ ist ein weiterer mitreissender Hit, der wieder schnell zum Punkt kommt und zeigt, wie natürlich das Songwriting abgelaufen sein muss, und nicht ohne Mitwippen gehört werden kann – klar, dass „Nuclear Blast“ da nicht widerstehen konnten. Sicher wird es kritische Stimmen geben, die mangelnde Innovation verurteilen und neue Ideen vermissen, und sowieso den Ausverkauf der alten Helden vermuten.

Wer jedoch wie ich als grosser IN FLAMES-Fan ab ´Clayman´ die Kursänderung hin zum NuMetal nicht mehr mitmachen konnte und wollte, bekommt hiermit Jahrzehnte später ein komplett unerwartetes Geschenk; THE HALO EFFECT füllen die damals entstandene Lücke mit Bravour, und heben den Schweden-Trademarksound der Neunziger und damit seine rebellische, hungrige, melancholische aber auch kraftvolle, eine ganze Generation prägende positive Energie gleichzeitig in die Neuzeit. Was für eine Überraschung! Danke. Genau DAS haben wir in diesen wilden Zeiten gebraucht!

(Klare NEUN Punkte!)

 

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Pic: Markus Esselmar