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LONG DISTANCE CALLING – Eraser

2022 (earMUSIC/Edel Music & Entertainment) – Stil: Post Rock ~


Seit 16 Jahren beehren uns LONG DISTANCE CALLING nahezu alle zwei Jahren mit einem neuen Studioalbum. Zur Überbrückung der Zeit und zum Begleichen der eigenen Steuerschulden veröffentlichte die bekannteste Münsteraner Instrumentalband nach dem letzten Werk ´How Do We Want To Live?´ zwischendurch sogar noch eine EP.

In bekannter Besetzung – Janosch Rathmer (Schlagzeug, Percussions), David Jordan (Gitarre, Synthesizer), Florian Füntmann (Gitarre) und Jan Hoffmann (Bass) – nahmen sie seitdem an einigen bekannten Locations in Münster und Hannover ihr achtes Studioalbum auf. Während sich ´How Do We Want To Live?´ geschickt mit Synthesizern schmückte und der Zukunft mit künstlicher Intelligenz und Transhumanismus den Mittelfinger entgegenstreckte, bekommt ihn bei seinem Nachfolger, bei ´Eraser´, die Menschheit direkt vor das Gesicht gehalten.

Konnte der Umgang mit künstlicher Intelligenz noch wortwörtlich nach Goethe – „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“ – zusammengefasst werden, stellt sich diese Frage im Zusammenhang mit der Schuld des Menschen an Tier und Umwelt erst gar nicht. Der Mensch, von Natur oder von Gott aus, mit einem freien Willen ausgestattet, nutzt diesen, um seine Intelligenz regelrecht auszuschalten und in seiner rücksichtslosen Lebensweise ein Tier nach dem anderen auszurotten. Von der geschändeten und ruinierten Natur, in der er und von der er lebt, ganz zu schweigen.

Auf ´Eraser´ widmen sich LONG DISTANCE CALLING mit jeder Komposition dem Artenschutz eines Tieres, ehe sie im letzten Song dem Menschen für sein Versagen die rote Karte zeigen.

 

 

Das Spiel beginnt mit dem Betreten der ´Death Box´, einem morbiden Klavierspiel zur Veranschaulichung einer in Tasmanien vergrabenen Black Box, die für künftige Generationen die heutigen Umweltzerstörungen aufzeichnet. Wuchtig kreisen die Gitarren erst im Anschluss zu Ehren der Nashörner ihre Runden. Die Nashörner scheinen sogar richtige Laute auszuschnaufen und trampeln in hoher Geschwindigkeit über die Tiefebene (´Blades´). Dagegen mögen sich die Gorillas als Waldbewohner beinahe sieben Minuten lang zwischen den Seilen hin- und herwiegen, ehe sie zum Takt des Urwaldes mutig die Verfolgung aufnehmen und erst zum Ende hin zu wehklagenden Gitarrenläufen die Köpfe begeistert schwenken (´Kamilah´).

Eine eher unbekannte Art ist der Grönlandhai, der wohl mehrere Jahrhunderte alt werden kann. Entsprechend eines Unterwassergespräches beginnen in den kommenden sieben Minuten umgehend die Gitarren an zu singen. Kommt das Schlagzeug noch hektisch nervös hinzu, ähneln diese fantastischen Klänge beinahe den Walgesängen (´500 Years´). Zu Ehren des Faultiers gastiert sogar innerhalb weiterer sieben Minuten Jørgen Munkeby von den legendären norwegischen Blackjazzern SHINING. Doch auch in dieser verlorenen und dahinsiechenden Welt strahlen die eindringlichen Töne von LONG DISTANCE CALLING über den Erdball, erst recht wenn die Gitarren derart jubilieren dürfen (´Sloth´).

Ohne jegliche Verzögerung startet der Albatros seinen Flug. Nach einem kurzen Zwischenstopp hält ihn das Schlagzeug weiter in Schwung (´Giants Leaving´). Peu à peu saust hernach dieses wichtige Geschöpf, die Biene, immer näher an die Zuhörerschaft heran. Über zehn Minuten ist sie dabei unermüdlich in ihrem Arbeitseifer und lässt niemals nach (´Blood Honey´). Der Tiger kommt sodann auf mächtigen, aber federnden Sohlen, damit er im entscheidenden Moment, dem Gitarrensaitenkreisen gleich, zur Verwirrung in seiner Umwelt beitragen kann (´Landless King´).

„Von allen Tieren ist der Mensch das Einzige, das grausam ist. Keines außer ihm fügt anderen Schmerz zum eigenen Vergnügen zu,“ so sagt es bereits Mark Twain. Dementsprechend disharmonisch lärmend steigt die neunminütige Vorführung zum Thema Mensch ein. Denn druckvoll und unnachgiebig zieht dieser seine blutigen Kreise über den Planeten (´Eraser´).

 

 

Nichtsdestotrotz darf das humane Wesen ´Eraser´ hören, es muss es geradezu hören, kann sich zum Genießen und Goutieren in die elegische Musik hineinlegen, oder darf bei aller Bestürzung und Verstörtheit in der heavy und äußerst aufwühlenden Atmosphäre mit den Fäusten gegen die Wände schlagen. Alter Ausradierer!

(8,5 Punkte)

https://www.facebook.com/longdistancecalling


Pic: Andre Stephan
(VÖ: 26.08.2022)