PlattenkritikenPressfrisch

COLTRE – To Watch With Hands… To Touch With Eyes

~ 2024 (Dying Victims Productions) – Stil: Metal ~


Ich habe noch immer den „Lambs to the Slaughter“ Refrain von der 2020er Debüt EP im Kopf, dieses Maß an Eingängigkeit und die Zeiten überdauernder Hymnenqualität müssen COLTRE auf der ersten LP erstmal schaffen. Müssen sie? Wäre sicher nicht übel, damit sie nicht irgendwann im Wust der soliden Bands mit angenehmer kompositorischer B-Ware untergehen, welche die NWoTHM-Szene derzeit fluten.

Was mir auffällt sind viele versponnene Momente, die zwar nicht proggy im eigentlichen Sinne und auch nicht übertrieben verkopft sind, aber eventuell sehr entspannt wirken dürften. Und diese Entspanntheit kann dem hektischen Metalhörer schon den Faden in den Songs streitig machen.

Der Sound und Stil ist definitiv noch altbackener als zuvor. 1977 bis 1979 eher als 1980 und später. NWoBHM statt NWoTHM, sagt sogar meine Perle und die hat schon Ahnung. Erinnert mich an die japanischen Bootleg CD-Sampler, die Anfang der 90er kursierten. Da waren viele heutzutage bekanntere, aber 1980 zu NWoBHM-Zeiten nur mit Singles in Erscheinung getretene Kultbands enthalten.

HOLOCAUST aus Edinburgh / Schottland, die hatten auf der ´The Nightcomers´-LP 1981 solche Songs. HERITAGE auf ihrer ´Remorse Code´ von 1982 auch.

Versponnen. Heavy zwar, heavy und knackig gespielt, aber im Melodienbereich dezent entrückt und nicht straight to the heart on fire. Dabei klingen COLTRE durch den hellen, etwas frech wirkenden Gesang recht eigen. Weder so relaxt wie HERITAGE, noch so düster wie HOLOCAUST. Eigen halt.

Schön um die Ecke gespielt und doch einprägsam sind Riffs, Rhythmen und Bassläufe. Schön altbatsch ist der natürliche Sound. Diese Platte verlangt Dich. Sie schreit nach Deiner Aufmerksamkeit. Im gleichen Atemzug peitscht sie Dir schön den Popo, wie eine Kick Ass Heavy Rock Scheibe das tun sollte.

Ich will nicht sagen, dass COLTRE hiermit kauzig geworden wären, aber sie haben unprogressive und doch fordernde Musik erschaffen, die in ihrer Tiefe und Verspieltheit nichts für dumpfe Grölbrüder und Kreischschwestern ist. Sie haben sich auf Traditionen besonnen, sie schreiben Geschichten in Klangformat mit viel Dynamik und einer selten gefundenen Lebendigkeit. Die Platte klingt so lebendig, als hätte man sie im First-Take als Band im Proberaum direkt eingespielt.

Ich bin kein Gitarrist, aber ich meine sogar die unterschiedlichen Amps der Gitarristen beim Einspielen auseinanderhalten zu können. Ich fühle mich wieder wie 20, 1994, als ich die ganzen Sampler rauf und runter gehört und mich in all diese kultigen NWoBHM-Rocker verliebt habe. Womit ich echt ganz alleine dastand.

Schön zu hören sind die Wechsel aus rockenden Parts in ruhige, teilweise spannend epische Passagen hinein und zurück zum Heavy Metal-Rock, bei dem dann zuweilen grandios auch mehrstimmig soliert wird. Und dieser Bass, halleluja. Mehr als nur rhythmische Begleitung und Klanglochstopfer. Da sind herrliche Läufe dabei, die zu entdecken sich lohnt.

Meine Perle sagt, sie erinnert u.a. der Song ´Temptress´ an die genialen Amis DANAVA, die auch sehr flippig mit oft mehrstimmigen Gitarrenleads agieren, allerdings auch wirklich direkte Refrains besitzen und das haben COLTRE hier nicht so wirklich. Dafür eine unglaubliche Tiefe und sehr viel Musik, die da passiert.

Am packend eingängigsten ist die Heavy Ballade ´Oblivion´ am Ende der Platte. Riffs und Leadgitarrenmelodien voller Dramatik und Leidenschaft, ein Gesang mit Inbrunst geschmettert, der sehr gefühlsintensive Melodien bringt, eine klassische Ballade, wie sie damals, vor beinahe 45 Jahren, gerne auf solchen Heavy Metal-Alben stand.

Also, kein direkter Hitrefrain am Start, aber soviele kleine Schnörkel und verspielte Strukturen, die man sich erhören muss. Das wird eine Platte für Freaks, für Wagemutige und gewünscht eine der größten Heavy Metal-Platten der 20er Jahre. Ich ziehe meinen Hut und erhebe mein Glas Prosecco auf „Dying Victims Productions“ und COLTRE.

(9 Punkte)

 

https://www.facebook.com/Coltre.Uk