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BRUCE SPRINGSTEEN – Only The Strong Survive

~ 2022 (Columbia) – Stil: Soul/Rock ~


Der Boss bleibt sentimental. Nachdem Bruce Springsteen einen Abriss seines Lebens am Broadway zum Besten gab, zuletzt auf Tournee seine klassischen Werke in den Mittelpunkt stellte und auf dem letzten Studioalbum alte Songs aus den Siebzigerjahren aufführte, widmet er sich mit seinem neuesten Werk seinen Jugendtagen. ´Only The Strong Survive´ ist eine Hommage und ein nostalgischer Rückblick zugleich.

Bei seinem einzigen Ausflug in fremde Kompositionswelten befasste sich Bruce Springsteen 2006 mit den populären Folksongs von Pete Seeger. 2022 begibt er sich in die Sechziger- und Siebzigerjahre und setzt seine Stimmbänder erstklassig in der Welt klassischer Soul- und R&B-Songs ein. Leider verpasst er zur Wiederentdeckung dieser Werke die Gelegenheit, auch einige Musiker aus dieser Zeit einzuladen. Allein Soul-Sänger Sam Moore (SAM & DAVE) ist bei zwei Liedern zugegen.

Das gesamte Instrumentarium für ´Only The Strong Survive´ spielte Langzeitproduzent Ron Aniello ein, Trompete, Posaune und Saxofon erledigten die E STREET HORNS und die Streicher Lisa Kim mit Rob Mathis als Arrangeur. Springsteen selbst greift natürlich in der Regel zur Gitarre und selbstverständlich unterstützen die bewährten Soozie Tyrell, Lisa Lowell und Michelle Moore mit ihrem Gesang im Background diese Songkollektion.

 

 

Der Boss widmet sich also dem amerikanischen Songbook, 15 überwiegend nicht so populären US-amerikanischen Soulklassikern.

Dennoch sieht er seine Versionen dieser alten Klassiker ganz bestimmt nicht als ultimativ an, sondern nur als Türöffner in eine längst vergangene Zeit und auch bisweilen vergessene Musik. Endlich muss auch seine Stimme nicht hinter der Komposition und dem Arrangement hintenanstehen, betont er. Er sieht sich als Bewahrer des amerikanischen Songbooks und fordert auf, dieses nicht zu vergessen, sondern immer wieder aufs Neue zu entdecken.

Die Freude an der Musik ist Bruce Springsteen und allen Beteiligten anzuhören. Während die Arrangements der Originale keine gewaltige Veränderung erfahren, erleben die Songs selber durch den mittlerweile 73-jährigen eine opulente und kraftvolle Wiederauferstehung. Denn schlussendlich werden sie beinahe zu Bruce Springsteen-Songs und wären womöglich in der Zusammenarbeit mit der E STREET BAND äußerst klassikerverdächtig.

´Only The Strong Survive´ ist weder ein intimer Privatauftritt noch eine Stadionveranstaltung, sondern vielmehr eine kostbare Hallenzeremonie für jedermann. Da über das Artwork verteilt immer wieder „Covers Vol. 1“ abgedruckt ist, scheint eine Fortsetzung nicht ausgeschlossen.

 

Der eröffnende Titelsong ´Only The Strong Survive´, 1968 im Original von Jerry Butler gesungen, setzt den chronologischen Ausgangspunkt für die musikalische Reise und lässt den jungen Bruce zu jenem Zeitpunkt auftauchen, in dem ihm seine Mutter den Ratschlag mit auf den Weg gibt, dass viele Mädchen auch viel Ärger bedeuten. Zu einem späteren Zeitpunkt der Scheibe werden im fantastischen ´Hey, Western Union Man´, ebenso von 1968 und Jerry Butler,  allerdings schon Telegramme an die Geliebte verschickt.

Das weitaus jüngere und sanftere ´Soul Days´ von Dobie Gray aus 2000 ist dahingehend eine Ausnahme, spricht allerdings dem jungen Bruce ganz aus dem Herzen: „I crawled out of bed real slowly, threw on some old blue jeans, found my favourite T-shirt, started rolling up my sleeves, like James Dean, thinking I was still nineteen.“ Zeitlich in der Mitte der Epochen liegt hingegen der COMMODORES-Klassiker ´Nightshift´ aus 1985. Der groovige Tribut an Marvin Gaye und Jackie Wilson wirft selbst in der Fassung von Bruce alle Hörer mindestens in die Achtzigerjahre zurück. Auf derselben Zeitebene liegt ´When She Was My Girl´ der FOUR TOPS aus dem Jahre 1981.

Frisch wie anno 1965 tönt die wilde Motown-Single von Frank Wilsons ´Do I Love You (Indeed I Do)´ im Hier und Jetzt. Sogar die weltbekannte 1966er Erfolgssingle der WALKER BROTHERS ´The Sun Ain’t Gonna Shine (Anymore)´ erhält eine hochwertige Neuvertonung, ebenso wie ´I Wish It Would Rain´ der TEMPTATIONS aus dem Jahre 1967. Das kreativste Songwriter-Team der Motown-Ära, Holland–Dozier–Holland, findet überraschenderweise nur mit dem 1967er FOUR TOPS-Song ´7 Rooms Of Gloom´ seine Berücksichtigung.

Im Übrigen hat der junggebliebene Bruce am 1970er ´Turn Back The Hands Of Time´ des R&B-Sängers Tyrone Davis seine helle Freude. Er trägt Ben E. Kings Gassenhauer ´Don’t Play That Song´ aus 1962, von dessen Ehefrau komponiert, gleichsam mit Schmiss vor wie William Bells 1962er ´Any Other Way´ sowie obendrein dessen 1968er Ballade ´I Forgot To Be Your Lover´. Die sensationellen Lieder aus den Sechzigerjahren erfahren mit Jimmy Ruffins ´What Becomes Of The Brokenhearted´ aus 1966 ihre Fortsetzung. Hoffnungsvoll lässt ´Someday We’ll Be Together´, der 1969er Nummer 1-Hit von Diana Ross und den SUPREMES, den Hörer in seinen Gedanken und Träumen zurück.

(9 sentimentale Punkte)

 

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