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HILDEGARD KNEF – Knef

~ 1970/2022 (Warner Music Group Germany) – Stil: Pop ~


In den Fünfzigerjahren erregt Hildegard Knef mit einem sieben Sekunden langen Nacktauftritt im Kinofilm „Die Sünderin“ die prüden und spießigen Gemüter des Nachkriegsdeutschland. Dabei hatte die 1925 in Ulm geborene Schauspielerin bereits Deutschland verlassen und wurde 1950 US-amerikanische Staatsbürgerin. Die kurze Rückkehr für den erst durch öffentliche Proteste zum Skandal hochstilisierten Film aus 1951 beschert ihr den großen Durchbruch, dem weitere Erfolge in den USA und am Broadway folgen werden.

Dennoch kehrt Hildegard Knef 1957 Hollywood den Rücken zu und profiliert sich in der Folge als die „beste Sängerin ohne Stimme“, wie sie Ella Fitzgerald eines Tages bezeichnet. In Deutschland wird man jedoch erst durch ihre Erfolge im Ausland, wo sie als Sängerin regelrecht hofiert wird, hellhörig. Somit erhält sie auch hierzulande mit Chansons die ihr gebührende Aufmerksamkeit und tritt mit exquisiten Begleitbands auf.

Von 1965 an schreibt sie auch ihre eigenen Liedtexte und veröffentlicht 1968 mit ´Für mich soll’s rote Rosen regnen´ ein Lied für die Ewigkeit, das sie im Gefühlsrausch ihres späten Mutterglücks schreibt und fortan zu ihrem musikalischen Markenzeichen wird.

1970 kommt zusammen, was keiner für möglich gehalten hätte, die spezielle Knef’sche Lyrik und Sechzigerjahre Pop-Beat. Gemeinsam mit Hans Hammerschmid, dem österreichischen Komponisten und Arrangeur ihrer Aufnahmen, der bereits auf ´Halt mich fest´ (1967) und ´Träume heißen du´ (1968) die musikalische Leitung übernommen hatte, will man mit Chansons und Schlagern brechen und mit aktuellem Pop wie Jazz, Beat und Folk punkten. Und so produziert der britische Schauspieler und damalige Knef Ehemann David Cameron zwischen dem 9. und 12. Dezember 1969 in den „Teldec-Studios“ in Berlin-Lichterfelde das schlicht ´Knef´ betitelte Studioalbum, das vielleicht gar nicht so überraschend keine großen Erfolge einheimsen kann.

Damit aber dieses famose Album aus 1970 nicht auf Ewig ein Geheimtipp bleibt, katapultiert 52 Jahre später eine Vinyl-Veröffentlichung Hildegard Knefs persönlichen Album-Favoriten endlich in die Charts. Der Kult-Charakter dieses zunächst unverstandenen Werkes zeigt sich naturgemäß erst im Nachhinein.

Bereits die Eröffnung ´Wieviel Menschen waren glücklich, daß Du gelebt?´ spricht alles aus, Zeitkritik und Zeitgeist: „Vielleicht fragt dich eines Tages jemand, der noch unbestechlich: Wieviel Menschen waren glücklich, dass du gelebt?“ Diese ersten Zeilen zielen direkt auf den sich ausbreitenden Egoismus der Gesellschaft, derweil die Band mit E-Gitarre im schönsten Psychedelic Rock und Krautrock loslegt und sich obendrein einen jazzigen Ausflug gönnt. Der Songtitel, die große Frage des Lebens, entstammt indes dem spirituellen Glauben eines Indianerstamms aus Nebraska. Ihrer Annahme zufolge stellt ein Wesen jedem Menschen nach dem Tod diese Frage: „Wieviel Menschen waren glücklich, dass du gelebt?“ Doch selbst zu Lebzeiten ist gemäß Hildegard Knef eine Antwort müßig oder unmöglich: „Die Trauer macht dich stumm, weil du’s nicht weißt.“

´Knef´ ist im gewissen Sinne auch ein Wendepunkt in der Karriere von Hildegard Knef als Sängerin. Sie blickt nicht nur musikalisch zurück, sondern betrachtet kritisch die Gegenwart und schaut in die Zukunft. Der Kirmes-Walzer ´Schwertfisch´ schwingt musikalisch einwandfrei zwar in alten Weisen, entpuppt sich allerdings über den Weg einer allegorischen Tierbetrachtung als kritischer Beobachter der ewigen Jagd des Menschen nach dem Sinn des Lebens: „Der Mensch wird von der ständigen Frage nach einem tieferen Sinn geplagt. So fragt er vergebens, Zeit seines Lebens, bekommt nichts gesagt, weil er das Falsche fragt.“

Der nächste großartige, von einer südländischen Akustikgitarre begleitete Song ´(Ich brauch’) Tapetenwechsel´ illustriert die Fabel einer umtriebigen Birke („Ich brauch’ Tapetenwechsel, sprach die Birke, und macht’ sich in der Dämmerung auf den Weg“), könnte allerdings ebenso einzelne Abschnitte des ereignisreichen Lebens der Künstlerin widerspiegeln, die ihre ungewisse Zukunft vor Augen hat („und als Kommode dachte sie noch immer, wie schön es doch im Birkenhaine war.“).

Von einem Streichorchester umhüllt, ist die ´Insel meiner Angst´ ein wahrer, in Melancholie gegossener Albtraum: „Als ich Hilfe brauchte, sie in mir nicht mehr fand, blieb ich allein auf lichtloser Insel, auf der Insel meiner Angst.“ Noch weiter blickt ´Elvira O.´ als ersonnener Rückblick aus dem „Jahr 2050 oder so“ in die Goldenen Zwanzigerjahre zurück. Achtzig Jahre später sehnt man sich 130 Jahre zurück. Mono, Ragtime-Klavier, Klarinette, und die Stimme aus dem Grammophon singt: „Hach wo sind die goldenen Jahr‘, als ich noch ein Ärgernis war?“

Doch schon folgen die nächsten beiden Klassiker. ´Friedenskampf und Schadenfreude´ verweist bereits im Titel auf die Gegensätzlichkeit innerhalb beider Wörter, hier der kommunistisch gesteuerte Friedenskampf, dort eine substantivierte deutsche Wortschöpfung: „Du heißt Kampf und vorne Frieden, mir ist Freud‘ und Schad‘ beschieden. Selten wurde so gelacht wie in jener Nacht…“ Musikalisch bewegt sich die längste Komposition mit prächtigen Streicher- und Bläserarrangements zwischen James Last-Orchester und James Bond-Soundtrack.

Selbst im deutschen Schlager und in ´Liebe auf den hundertsten Blick´ stehen neben geschichtlichen Stationen („Und im alten Rom kannten wir uns schon; und nach Marc Aurels Bankett gingen wir sogleich ins Bett.“) insbesondere der Komponist Burt Bacharach im allgemeinen Interesse („Unter Dschingis Khan fing es wieder an und beim edlen Prinz Eugen war’s nicht mehr zu überseh’n, was es war – es war Liebe auf den hundertsten Blick.“). Samt Streichern und den Rosy-Singers schildert sodann der barocke Pop ´Mein Zeitbegriff´ die Welt aus der Sicht eines Wickelkindes („Mein Zeitbegriff ist nicht der eure. Ihr sagt, ich sei jetzt fast ein Jahr.“) und hält sich nicht mit Kritik am Erwachsensein zurück, da Erwachsene alles verlernt haben („Ihr habt verlernt, Gedanken zu begreifen und einen Wunsch ganz einfach zu verstehn.“), auch die Liebe und vieles mehr („Eure Zärtlichkeit ist nicht die meine, und was ihr Schicksal nennt, das ist mir fremd. Die Freuden, die ihr meint, sind ohne Freude, Ihr sprecht von Glück, dem Glück, das ihr nicht kennt.“). Die Knef’sche Lyrik („Auf dem Boden liegt die Zeitung, leer gelesen.“) kommt sogar ungeschönt nur mit Klavierbegleitung in ´Der Tag holt Luft´ besonders schillernd zur Geltung („Der Tag holt Luft und knackt mit den Gelenken.“).

Ein verlorenes Leben, geschildert und tatsächlich ausgedacht wie auf einem LSD-Trip, deutet die psychedelische Nummer ´Im 80. Stockwerk´, „in dem Haus, das es nicht gibt, in der Stadt, die es nicht gibt“ über ein wartendes, nicht existierendes Mädchen auf einen nicht existierenden Mann und ist womöglich eine erste Hippie-Ode an Bielefeld. Ebenfalls auf einem orchestralen Trip zeigt sich die drohende („Als das Flussbett eingetrocknet, suchten Kinder nach dem Ufer.“) Apokalypse („Als die Meere uns verließen und der Regen ihnen folgte.“) von ´Die Herren dieser Welt´ in der Symbiose mit dem Grauen des Dritten Reichs („Wir sind die Herren dieser Welt, die gesiegt zu Meer und Land, wer sich uns entgegenstellt kommt an die Wand.“).

Ein wehmütiger Ausflug in die eigene Kindheit, aus der weder die Angst noch der Zorn, weder die Träume noch die Wünsche, weder der Schmerz noch die Hoffnung verloren gehen, ist das abschließende Lied ´Eisblumen´, das sich in der Rille der Langspielplatte mit folgenden Worten endlos weiterdreht: „In der Watte seines Unvermögens lebt der Mensch begrenzt. Ich, du, er, sie, es haben’s gut gemeint, immer gut gemeint, irgendjemand hat es gut gemeint, immer gut gemeint. Letzte Rille, knister, letzte Rille, letzte Rille, knister …“ Die hallenden Worte des Scheiben-Auftakts dabei noch im Ohr: „Vielleicht fragt dich eines Tages, jemand, der noch unbestechlich: Wie viel Menschen waren glücklich, dass du gelebt?“

30 Jahre später, im März 2000 überreicht Laudator Roger Willemsen bei der Schallplattenpreisverleihung in Hamburg Hildegard Knef den „Echo“ für ihr Lebenswerk mit den Worten: „Hilde, wir waren glücklich, dass du gelebt.“

(Klassiker)