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CYNIC – Ascension Codes

~ 2021 (Season of Mist) – Stil: Progressive Rock/Metal ~


Ich weiss nicht wie’s euch am Jahresende so geht, ich kann jedenfalls machen und mir vornehmen was ich will, der Dezember wird jedes Mal in jeglichem Lebensbereich hektisch und anstrengend ohne Ende. So aufgedreht und unter Druck bin ich die restlichen zwölf Monate nie, glücklicherweise endet das jedoch stets pünktlich mit den übersinnlichen Weihnachtstagen, ich spüre förmlich meinen Blutdruck immer weiter absinken und gleite in eine willkommene und umfassende Zwischen-den-Jahren-Entspannung wie in ein schaumiges Vollbad, in dem ich dann persönlichen Jahresrückblick halte und mich innerlich auf das, was im neuen kommen wird, vorbereite. Sonst bin ich einfach nur faul und geniesse die mehr oder weniger stille, freie Zeit, und dieses Jahr habe ich dafür noch höchst willkommene Unterstützung in Form von ´Ascension Codes´, der wunderbaren neuen CYNIC, erhalten. Spät im Jahr erschienen ist sie nämlich ebenso ein Klangbad mit umfassend entspannender Wirkung, und ich vermute schwer, dass Paul Masvidal darin eine grosszügige Feiertagsdosis seiner isochronen Töne versteckt hat, die völlig unbemerkt beim Zuhören ihre heilsame Wirkung auf Seele und Körper ausüben können… und genau deswegen möchte ich sie euch ganz nah ans Herz legen.

Die Struktur des Albums mit seinen acht „Codes“, sekundenlangen Sphärenklang-Interludien, die die neun Songs flankieren, deutet zumindest stark darauf hin, dass das einzige verbliebene Gründungsmitglied uns neben dem reinen Hörgenuss noch mehr Gutes tun will, und natürlich vor allem ´DNA Activation Template´, die im Zentrum des Albums platzierte Langversion der Codes, ein Ambient-Vocoder-Stimmsoundtrack der Anhebung unserer Frequenzen. Bitte nicht gleich aussteigen, wer hiermit nichts anfangen kann – zum Genuß der Platte ist das nämlich überhaupt nicht nötig. Vermutlich haben seine seit Jahrzehnten eingeübten spirituellen Praktiken jedoch Masvidal geholfen, das so schmerzvolle Jahr 2020 zu überstehen und danach überhaupt wieder in der Lage zu sein, nochmals ein CYNIC-Album aufzunehmen. Das bereits vorhandene Material war zumindest Ausnahmedrummer Sean Reinert, der die Band zwar bereits 2015 verliess, doch weiterhin mit Masvidal verbunden blieb, noch vor seinem plötzlichen Tod im Januar bekannt, doch der Suizid von Bassist Sean Malone im Dezember 2020 warf dann alle Pläne über den Haufen, der Sänger und Gitarrist musste den Nachfolger des noch mit den beiden Seans 2017 eingespielten ´Kindly Bent To Free Us´ sieben Jahre danach allein mit Drummer Matt Lynch fertigstellen. Ein sehr pietätvoller und kluger Zug hierbei war, gar nicht erst nach einem neuen Bassisten zu suchen, der Fretless-Legende Malone sowieso nicht hätte ersetzen können, sondern mit dem Pianisten Dave Mackay am Bass-Synthesizer die tiefen Töne auf eine völlig andere, doch mit dem perlenden Fluss der Töne auch wieder wohlbekannte Weise abzudecken.

 

 

Es ist ein sehr elektronisches, aber gleichzeitig auch virtuos rockendes, transzendentes Progmetal-Album geworden, das den schweren Weg der angemessenen Würdigung verlorener Freunde und Ausnahmekünstler mit der eigenen Trauerbewältigung verbindet – und dabei auf wundersame Weise völlig schwerelos, schwebend und positiv gestimmt das (Über-)Leben preist. Einzig das ergreifende ´Aurora´ erzählt von Masvidals tiefem Schmerz:

“…a sorrowful parting
The karmic traces rise like weeds
Beat my body bruise my soul
But I guess I’ll have to face it
Roll up my sleeves and take it
No mind here to erase it

Aurora

A crowded little room
You could have the sky
But the inner paints the outer world
And you’re cozy in your tomb
Fatigue a locomotion
Adversities a strong potion
The demons come to pollinate
But I guess I’ll have to face it…”

 

Unter diesen Bedingungen kann die Frage nicht sein, wieviel CYNIC noch in dieser Entität steckt, vielmehr müssen und können wir dankbar sein, dass es dieses möglicherweise letzte Lebenszeichen überhaupt gibt – was nicht heisst, dass wir alle musikalischen Ansprüche fahren lassen müssten. Denn Paul Masvidal zollt aus seiner Perspektive und mit der Erfahrung seiner eigenen Projekte der gesamten über dreissigjährigen CYNIC-History Tribut, was beispielsweise bedeutet, dass neben seiner hohen Klarstimme häufig der Vocoder zurück ist, seine typischen Arpeggios frei fliessen und sich im Dialog mit dem groovy Synth-Bass, gerne auch solierend, sowie den hochtechnischen und doch seelenvollen Drums noch weiter, aber immer ganz federleicht steigern, und proggig-vertrackte Rhythmen, teils sogar Breakcore nahtlos in Fusion und sehr ausgeprägte Ambientpassagen übergehen. Die Interludien mögen den einen oder anderen stören, betonen jedoch den jeweiligen Charakter der eigentlichen Songs und geben zwischen ihnen Zeit zum Durchatmen und Fokussieren. Für mich sind sie zudem Gleichnisse für die Endlichkeit von allem, was ja schliesslich Hauptthema dieser Platte ist.

Natürlich ist da deutlich weniger Metal, weniger Kantiges, Dissonantes drin als früher, aber die weite, jazzig-spacige Atmosphäre nimmt gefangen und ja, lullt gerade in anspruchsvollen Zeiten tröstend ein. Es ist eine sehr gefühlige Platte geworden, jedoch erstaunlicherweise nicht auf melancholische Art, sondern so schwerelos wie ein (T)Raumspaziergang; sie ist befreiend, öffnend, viel mehr tiefes Aus- als scharfes Einatmen, und bei aller Virtuosität und Komplexität sehr leicht zugänglich. Niemand hat eine zweite ´Focus´ oder ´Traced In Air´ erwartet, erhält mit ´Ascension Codes´ jedoch tatsächlich eine moderne, reifere und situationsgemäss auch deutlich emotionalere Version des Zweitlings, mit all der technischen und kompositorischen Finesse wie zuvor, jedoch so songdienlich verpackt, dass sich die eigentliche Farbenpracht, Vielschichtigkeit und Tiefe erst dann entdecken lassen, wenn man sich wirklich mit Kopfhörern und vielen Durchgängen darauf einlässt. Dann macht sie unweigerlich glücklich. Und das ist deutlich mehr als zu erwarten war.

(8,5 Punkte)

 

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