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GEMMA – Gemma

~ 2021 (Independent) – Stil: Electro Post-Rock / Folk ~


Was mich an dem Phänomen „Weltmusik“ schon immer fasziniert hat, ist der universelle Zugang dazu. Jeder fühlt, was Musik aussagt, auch wenn er keine kulturellen Bezüge zum Herkunftsort der Musiker hat, nichts über sie weiss. Wenn sich jedoch darüberhinaus vielerlei Einflüsse, Traditionen und Moderne verbinden, werden gleich mehrere Quellen menschlicher Ausdruckskraft angezapft, und heraus kommt etwas, das uns verbindet – und das ist heute wichtiger denn je.

GEMMA schaffen es auf jeden Fall, in ihrer Musik sehr viel Unverwandtes, Unerwartetes und Überraschendes miteinander zu verbinden. Das Quintett kommt aus Kreta und verknüpft traditionelle Folkloreklänge mit elektronik- und perkussionsbetontem Post Rock, eine Melange, die viel lebendiger und kraftvoller ist, als es in der Theorie klingen mag – was zum einen wieder mal die integrative Stärke von Musik beweist, aber auch auf die vielfältigen Einflüsse hinweist, die die Band verarbeitet. Das wiederum ist typisch für kretische Musik, für eine Insel, die in ihrer Geschichte so oft erobert wurde und unter so unterschiedlicher Fremdherrschaft stand, dass sich in ihrer Kultur orientalische, europäische und nordafrikanische Spuren wiederfinden. Die Menschen Kretas gelten als selbstbewusst, stolz und temperamentvoll, und auch das schlägt sich natürlich in ihrer Musik nieder, aber genauso die enge Verbindung zur Natur und eine starke Spiritualität und Mystik – das ist GEMMAs zarte, forschende Seite, die ein Gegengewicht zur pulsierenden, wie in Meereswellen anbrandenden Wucht der sich immer wieder hochschaukelnden Songs bildet.

Im Mittelpunkt des Geschehens (von dem man sich übrigens hier im Rahmen der „Antivirus Live Sessions“ ein Bild machen und mitreissen lassen kann) stehen Sängerin Evangelia Danili und Bandleader Giorgos Kaparos, der komponiert, produziert sowie Synthesizer und Gitarren spielt. Begleitet werden sie von Anastasis Paschidis am Bass, Schlagzeuger Nikos Mavrogiannakis und Apostolis Spinthourakis an verschiedenen traditionellen Percussions, der zudem die rein kretischen Lyrics verfasst – wenn GEMMA nicht gerade einen Rizitiko, die älteste Art, die Wurzeln kretischer Musik wie ´Bellos´, den letzten Song des Debüts, neu interpretieren. Womit wir zurück zu Evangelia kommen, der Hauptperson in diesem Gefüge. Sie hat nicht nur eine einzigartige, ätherische, sehnsuchtsvolle, aber gleichzeitig durchdringende Stimme, die sie in Perfektion kontrolliert, sondern dazu auch eine Technik, mit der sie alles macht, was ihr einfällt, mit oder ohne Texten, Modulationen, oder Phrasierungen, die ihre Stimme beben, brechen, vibrieren lässt, aber immer ohne Drama, sondern in gleichzeitig warmer wie cleaner Art. Tierlaute, Atem, Flüstern, sogar jede Pause gewinnen eine eigene Bedeutung, manchmal hat man gar den Eindruck, etwas spricht durch sie wie durch ein Medium, sie ist ein Kanal für Einflüsterungen aus anderen Sphären. Das erinnert stark an die polyphonen Bulgarischen Frauenchöre, die auch Lisa Gerrard so sehr beeinflusst haben, und damit sind wir bei der Band, ohne deren Nennung eine Rezension von GEMMA unvollständig wäre, nämlich DEAD CAN DANCE.

 

 

Deren Vermögen, traditionelle Musik aus allen möglichen Ecken der Welt mit modernen, urbanen elektronischen und Ambient-Klängen sowie eindrücklichem Gesang, auch mal mit Vocoder, zu verbinden dient GEMMA weniger als Vorbilder, vielmehr als Idee, wie man die eigene volkstümliche Tradition und Moderne organisch miteinander verbinden kann. Formalere Vorbilder für den Rocker an den Keyboards, denn das ist Kaparos sicherlich, sind hier eher die Briten MOGWAI mit ihren reduzierten Post Rock-Tonmalereien, die bei den Kretern einen nochmal deutlich spacigeren, kühleren Twist erfahren, den langsamen Spannungsaufbau bis zur Auflösung haben sie hingegen perfektioniert. Hinzu kommt die scheinbar unendliche Repetition, die Loops, langsamen Beats und melancholische Atmosphärik des Trip-Hop, die grosse Klangflächen aufspannt, welche nur ganz allmählich erkundet werden können. Es ist es vorsichtiges, respektvolles Herantasten, das vielleicht zuerst ein wenig ereignislos erscheinen mag, sich jedoch ständig aufbaut – Details sind, was hier zählt, doch es ist nicht mal notwendig, ständig ganz genau hinzuhören, denn GEMMA entführen uns ganz von selbst auf eine innere Reise, einen stillen Trip, der von zurückhaltenden Kontrasten lebt und, so paradox es klingt, daraus seine Stärke bezieht. Man spürt in jeder Sekunde, wie sich die Fünf gegenseitig inspirieren und vorantreiben, in einen Rausch milder Psychedelika, der dafür jedoch deutlich länger anhält und nachhallt.

GEMMA machen Musik für die Zeit kurz vor dem Sonnenaufgang nach einer durchgemachten Nacht, den verschwitzten Heimweg, wenn sich die unendliche Weite des Weltraums und die nackte menschliche Existenz begegnen… die Elektronen tanzen, Elementarteilchen fliegen durch das eiskalte Universum, treffen aufeinander, leuchten auf und verglühen wieder. Was wollen sie uns damit sagen? Vielleicht, dass die Schönheit des Lebens so viel grösser ist als alle Widrigkeiten. Und hier könnt ihr genau das hören – so oft ihr wollt. Für dieses Geschenk, dem ich wünsche, dass es um die ganze Welt geht, gibt es

9 Punkte.

 

https://gemma0fficial.bandcamp.com/

https://www.facebook.com/GemmaCrete/