PlattenkritikenPressfrisch

THIN LIZZY – Live And Dangerous Box Set – Deluxe Edition

~ 1978/2023 (Mercury) – Stil: Hard Rock ~


Es gibt kein Album, das mein Leben so beeinflusst hat, wie ´Live And Dangerous´. Das habe ich an anderer Stelle, als ich hier mit den LIZZY-Veröffentlichungen vor ein paar Jahren einstieg, schon einmal deutlich gemacht. Da wiederhole ich mich aber gerne. ´Rosalie / Cowgirl’s Song´ und kurz darauf ´The Boys Are Back In Town´ waren meine Einstiegsdrogen zu dieser Band. Und für den Rest meines Lebens hatte ich meine Lieblings-Band gefunden.

Ich bekam das Doppelalbum zu meinem 14. Geburtstag geschenkt (oder war es Weihnachten, in meinem Fall fast deckungsgleich) und ich habe es mir bis heute unzählige Male angehört. Ich hätte nie gedacht, dass eines Tages eine Deluxe-Edition mit acht CDs erscheinen würde, obwohl es einige wirklich gut klingende Bootlegs von den Konzerten im Hammersmith Odeon und in Philadelphia gibt. Dazu sehr schön ausgestattet in einem Buch mit vielen Fotos und unzähligen THIN LIZZY-Logos und das (zumindest bis zur Veröffentlichung) zu einem fairen Preis. Vinyl wäre auch nett.

Gerne gebe ich einen Überblick über die acht enthaltenen CDs, die Besonderheiten – insbesondere im Hinblick auf die von Produzent Tony Visconti verbreiteten Gerüchte, es wäre ziemlich viel als Overdubs hinzugefügt worden. Ich habe ein sehr genaues LIZZY-Ohr und kann nur ein Fazit ziehen: Das ist der Rede nicht wert. Allerdings wurden die Songs teilweise für ´Live And Dangerous´ etwas gekürzt, auch leider die genialen Ansagen von Philip Lynott, die ständig wechselten.

 

 

CD 1: The original ´Live And Dangerous´

Was sollte hier noch verbessert werden an diesem Meisterwerk? Ein unglaublich druckvoller Sound, eine Band auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. Die Songsreihenfolge seit mehr als 44 Jahren fest in meinem Gehirn verankert. Gottseidank wurde deshalb wenig am Original-Sound geändert. Sicher, diese Aufnahme ist lauter als auf den alten Platten und CDs. Unschlagbar. Unsterblich.

CD 2: Hammersmith Odeon 14. November 1976

Keine Songs verwendet auf dem Original ´Live And Dangerous´

Das erste Konzert der drei Hammersmith Auftritte. Die 37. Station der ´Johnny The Fox´-Tour. Die Kraft und Energie dieser drei Konzerte war einer der Gründe, warum THIN LIZZY sich für ein Live-Album entschlossen, obwohl eigentlich ein Studio-Album aufgenommen werden sollte. Der zweite Grund: Der enge Zeitplan von Tony Visconti wegen seiner Aufnahmen mit David Bowie. Der dritte – auch genannte – Grund: Philip Lynott hörte auf der nächsten US-Tour ständig Peter Frampton und seinen Millionen-Seller ´Frampton Comes Alive!´ im Radio und war der Meinung, dass THIN LIZZY das deutlich besser könnten.

Aber zurück zu der CD. Ein starkes ´Jailbreak´ geht in ein starkes ´Massacre´ über und ein bejubeltes ´Emerald´. Brian „Robbo“ Robertson und Scott Gorham spielen wie in Ekstase beim vielleicht besten Song der Rockgeschichte. Der Sound ist etwas rauer als bei der offiziellen ´Live And Dangerous´-CD. Das mächtige ´Johnny´, einer der vergessenen Juwelen der LIZZY-Geschichte, folgt.

Dann ein überraschendes ´It’s Only Money´, natürlich deutlich härter als auf ´Nightlife´. Die Band ist großartig eingespielt, ´Still In Love With You´ „dedicated to women“ ist auf den Punkt gespielt. Robbos Solo mit viel Hall und Kraft. Scott Gorham voluminös und schnell. Der Song ´Old Flame´ vom ´Johnny The Fox´ Album wird am Schluss integriert, es gibt Textzitate der erst 1979 auf ´Black Rose´ veröffentlichten ´With Love´ und vom ´Black Rose´-Titelsong selbst. Historische Version.

Die nächsten Songs sind nur Nuancen von ´Live And Dangerous´ entfernt. Die Background-Vocals sind vielleicht etwas rauer. ´Warrior´ magisch und genial wie immer. Ein längeres Drumsolo von Brian Downey auf ´Sha-La-La´. Philip Lynott und die Zuschauer im bekannten Songwettstreit bei ´Baby Drives Me Crazy´ in Topform. Philip stellt einmal mehr Robbos Spielzeughund Derek vor: „The dog is from Germany“.

Auch wenn keiner der Songs für ´Live And Dangerous verwendet wurde, die Band war in Top-Form. Und der erste Beweis, dass THIN LIZZY auch ungefiltert so stark waren wie auf ´Live And Dangerous´.

CD 3 : Hammersmith Odeon 15. November 1976

Hiervon wurden fünf Songs auf ´Live And Dangerous´ verwendet. Diese Aufnahme wurde bereits auf dem Bootleg ´Johnny The Fox Tour´ veröffentlicht. ´Emerald´ ist auf der CD anstelle von ´Still In Love With You´, das auf dem Bootleg und auf allen Setlists des Abends ist. Der Grund dafür ist mir nicht bekannt.

Egal, die Band klingt bei diesem Auftritt super gut eingespielt. Exzellenter Start mit ´Jailbreak´ & ´Massacre´ (man glaubt, man steht direkt vor der Bühne). Ein knallhartes ´Johnny The Fox Meets Jimmy The Weed“ (hervorragende Gitarrensoli). „Hey Rosie….this is your Cowboy here….“ singt Philip bei ´Rosalie (Cowgirls‘ Song)´ (laut Info wurde diese Version für ´Live And Dangerous´ verwendet, sie wurde in der Mitte gekürzt). Philips Reminiszenz (unter Pfiffen) an Manchester United: „Everytime they lose, I think of this song: ´Suicide´ (das wurde auch gestrichen). ´Sha-La-La´ sieben Minuten lang (ich glaube, das Drumsolo wurde auch hier für ´Live And Dangerous´ gekürzt & Robbos Gitarre klingt vor dem Solo doch sehr unterschiedlich). Eine großartige und lange ´Me And The Boys….´-Version folgt mit starken Improvisationen. Philip kündigt an: „Scott, BD, BR and me“ und jedes Instrument setzt ein. ´The Rocker´ zum Schluss, eindeutig die ´Live And Dangerous´-Version.

CD 4: Hammersmith Odeon 16. November 1976, letzter Auftritt. Ein Song auf ´Live And Dangerous´  

Der letzte der drei Abende. Von Anfang an ein ausgezeichneter Sound. Der gleiche Start wie an den beiden Tagen zuvor: ´Jailbreak´, ´Massacre´ & ´Emerald´ – großartig! Dann das mächtige ´Johnny´, ein weiteres Mal. Robbos Gitarre brennt. Direkter Übergang zu ´It’s Only Money´.  Wieder ´Old Flame´, das in ´Still In Love With You´ auftaucht. Zwei unterschätzte Gitarrenhelden. 7 Minuten ´Sha- La-La´, „It’s Brian’s Song. He wrote it“. ´Baby Drives Me Crazy´, der einzige Song von diesem Abend, der auf ´Live And Dangerous´ übernommen wurde, etwas gekürzt.

Nach dem Konzert gab es zum Abschluss der Europa-Tournee eine Party mit den SEX PISTOLS und dem irischen Fußball-Idol und Philip-Freund George Best. THIN LIZZY waren bereit, in dieser Top-Form ein paar Tage später die USA zu erobern. Wir wissen, dass Robbo am 23. November im Speakeasy Club statt seinem Steak eine durchtrennte Arterie an der Hand bei einer Schlägerei mit der Band GONZALEZ bekam, als er den auf allen Vieren torkelnden Frankie Miller vor einer abgebrochenen Bierflasche schützen wollte. Die Tour wurde abgesagt. Brian kam auf die Abschussliste von Philip Lynott und musste wieder Gitarre lernen.

 

 

CD 5: Philadelphia Tower 20. Oktober 1977

Zehn Songs wurden bei den beiden Abenden für ´Live And Dangerous´ übernommen. Auf der ´Live And Dangerous´-Platte stand auf dem Backcover für die ´Bad Reputation´ Tour nur Toronto (CD 7), tatsächlich stammen aber die meisten Songs von den beiden Philadelphia-Abenden und nichts aus Toronto. Diese Konzerte waren schon immer legendär in der Geschichte von THIN LIZZY. Es gab einige Bootlegs. Und im Jahr 2009 wurden einige der Songs auf dem Album ´Still Dangerous´ veröffentlicht. Schön, dass diese hervorragenden Konzerte der ´Bad Reputation´-Tour nun für beide Tage verfügbar sind. Philip macht darauf aufmerksam, dass die Show für die ´King Biscuit Flower Hours´ (US-Radiosendung) aufgezeichnet wird. Die Band beginnt mit einer hervorragenden Version des versteckten Juwels ´Soldier Of Fortune´. Was für ein großartiger Klassiker. Toller Sound.

Dann ein unschlagbares Trio: ´Jailbreak´ (´Live And Dangerous´-Version), ´Johnny´ & ´Warriors´. Der pure Wahnsinn. Wer glaubt, dass LIZZY erst mit ´Thunder And Lightning´ heavy geworden sind, sollte sich das anhören. Bei ´Johnny´ lässt Philip die 2. Strophe weg und singt stattdessen die dritte, wodurch der Song gekürzt wird. Dann zur Erholung ein starkes ´Dancing In The Moonlight…´ „Sex and Sax“ sagt Philip (mit deutlich mehr Sax-ofon als bei ´Live And Dangerous´) und ´Massacre´.

´Still In Love With You´ & ´Cowboy Song´ & ´The Boys Are Back in Town´ sind die 100%igen ´Live And Dangerous´ – Versionen. Overdubs? Fehlanzeige. Tolle Versionen des großartigen ´Opium Trail´, von ´Emerald´ mit leicht anderen Lyrics und ein kraftvolles ´Bad Reputation´ mit Schlagzeugsolo. ´Baby Drives Me Crazy´ mit Gesang für die Mädels und die Jungs. Perfekter Sound!

 

 

CD 6: Philadelphia Tower 21. Oktober 1977

Am zweiten Tag die exakt gleiche Songreihenfolge, ergänzt um ´Me And The Boys….´ am Ende. Der Start erfolgt wieder mit einem absolut starken ´Soldier Of Fortune´. Bei ´Johnny´ dieses Mal nur zwei Strophen, sehr gekürzt, warum auch immer? Schade. Ein tolles Saxofonsolo von John Earle von GRAHAM PARKER & THE RUMOUR bei ´Dancing In The Moonlight…´.

Ein kraftvolles ´Massacre´ – wie entfesselt. Wieder ein genialer Sound. ´Still In Love With You´ auf den Punkt gespielt. Wie konnte nur das Duo Scott Gorham / Brian Robertson auseinandergerissen werden? Das beste Line-up. Eine feine Version von ´Cowboy Song´ und ´The Boys Are Back In Town´ (auch beide sehr ähnlich dem Original auf ´Live And Dangerous´). Wieder ein fantastisches ´Opium Trail´. „This gig is been recorded so we want you to sing with your best voice“ – Philip zu Beginn von ´Baby Drives Me Crazy´.

Insgesamt sind die beiden Konzerte ein Highlight, auch ohne jegliche Overdubs. Nahezu gleichklingend wie bei ´Live And Dangerous´. Hätte man diese Abende in Philadelphia jeweils 1:1 veröffentlicht (mit den ´Bad Reputation´- Klassikern ´Soldier Of Fortune´, ´Opium Trail´ und ´Bad Reputation´) wäre der Erfolg genauso groß gewesen wie beim Original ´Live And Dangerous´. Das könnt ihr mir glauben.

CD 7: Seneca College Fieldhouse, Toronto 28. Oktober 1977

Keine Songs auf ´Live And Dangerous´ verwendet.

Es gab immer Gerüchte, Toronto wäre nur aus steuerlichen Gründen auf ´Live And Dangerous´ gelandet. Und tatsächlich wurde keiner der Songs laut Info auf der Box verwendet. Aber die Qualität ist im Großen und Ganzen genauso gut wie bei den anderen Konzerten, absolut keine Schwächen im Sound.

Die Songliste ist der von ´Live And Dangerous´ sehr ähnlich. Aber auch hier beginnt ein starkes ´Soldier Of Fortune´, die großartigen ´Opium Trail´ und ´Bad Reputation´ sind enthalten und ´Are You Ready´, später in einer Studioversion auf den ´Black Rose´-Demos auf Bootleg hörbar, taucht zum ersten Mal auf. „Whiskey In The Jar is for years over“, antwortet Philip einem Supporter, der diesen Wunsch äußert. ´Emerald´ folgt statt des ungeliebten ´Whiskey…´. Schönes Solo von John Earle am Saxofon bei ´Dancing In The Moonlight…´. Philip erzählt dem Publikum, die Show „is recorded for a possible Live-Album“.

 

 

CD 8: Rainbow Theatre, London 29. März 1977

Ein Teil dieses Konzerts ist natürlich von der ´Live And Dangerous´-Videokassette und mehreren DVD-Veröffentlichungen bekannt. Ich dachte immer, es gäbe viele Überschneidungen mit dem ´Live And Dangerous´-Original, aber nur ´Are You Ready´ wurde verwendet („A Soundcheck-Filler“ für Robbo). Es wäre schön, wenn es eine Wiederveröffentlichung mit dem ganzen Konzert in besserem Bild und Ton geben würde. Philip: „I have to mention Manchester United“ – Pfiffe- „and Arsenal London“ – es folgt ein tolles ´Warriors´ und ein dynamisches ´Cowboy Song´. „We’ve been live and dangerous for you at The Rainbow“ (Philip). Das Zusammenspiel ist hörbar brillant und auch das Video zeigt eine hervorragende Band. Das letzte Zitat von Mark Putterford aus seinem Buch ´The Rocker´: „A vision of a band on top form that remains spine-chillingly exciting to this day“. Amen!

Kaufen! Ist bald vergriffen, wie die BBC-Box und die Rock Legends-Box. Besseres kommt nicht mehr in diesem Rock-Leben.

Meine Nr. 1 für immer.