PlattenkritikenPressfrisch

TERRA – Hypercube

~ 2021 (Rockshots Records) – Stil: Prog ~


Die Erde ist blau, wie die Ozeane, die sie bedecken. Die Erde ist grün, wie die Wälder, die kleinen und die großen, in Sibirien, am Amazonas oder im Erzgebirge. Sie ist aber auch rot, wie die Feuer, die diese Wälder niederbrennen. Und die Welt ist grau, wie die Rauch- und Abgasschwaden aus Industrie und Straßenverkehr. Gelb ist die Erde, wie die Wüsten, die sich immer weiter ausbreiten. Und sie ist weiß. Weiß, wie die letzten Eisflächen an den Polkappen und die letzten Gletscher in den Hochgebirgen, die langsam schwinden. 

Ähnlich vielfältig und bunt ist TERRA. Das ist das Projekt des brasilianischen Multiinstrumentalisten, Songwriters und Sängers Lucas Barbosa. Bis auf das Schlagwerk hat er alle Instrumente hier selber eingespielt, auch so exotische wie eine Panflöte oder die Charango, auch Andengitarre genannt. Mit diesen hier enthaltenen Liedern hat er zumindest schon mal das italienische Label „Rockshots Records“ überzeugt. Nun gehen sie als Team daran, noch mehr Fans auf seine Seite zu ziehen.

Da ist allein das zehnminütige ´Against The Wind´. Hier verbinden sich countryeske Klänge, ein episches Gitarrensolo und polyphone Chorpassagen zu einer mächtigen Hymne. Man findet sich an einen weiten Strand versetzt. Der Blick ist gen Ozean gerichtet. Die Nase steckt im Wind. Gischtflocken fliegen um die Ohren. Sandkörner landen stechend im Gesicht. Ebenfalls ein Fall fürs Kopfkino ist das Instrumental ´Montaria´. Die ewige, ungestörte Ruhe des Dschungels, das friedliche Leben der Eingeborenen, typische Latin-Rhythmen treffen auf Pferdegetrappel und Didgeridoo. Das wirkt wie das Signalhorn eines riesigen Schiffes oder die Hupe einer überdimensionierten Baumerntemaschine. Die bedrohen die Stille und Einsamkeit, den Frieden und das ursprüngliche Leben. Ein letzter Flug entlang des Amazonas, und in der Ferne sind schon die Feuer zu riechen, die die Wälder niederbrennen. Platz für Plantagen scheint wichtiger als das Leben. Friede und Bedrohung, Leben und Tod. Und am Ende ist nicht klar, entfernen sich die Eindringlinge oder kommen noch mehr, noch näher? Oder ist es uns doch klar?

Jeder kennt sie. Jeder hat sie schon gesehen. Pseudo-folkloristische Indiogruppen in den Fußgängerzonen Europas, die um Zuhörer, CD-Käufer und Geldspender buhlen. Solche Klänge werden im Titelsong ´Hypercube´ auch angerissen. Hier aber im positiven Sinne und völlig unkitschig. Wer hier nicht an ANGRA denken muss, nicht nur hier, auch an anderen Stellen fühlt man sich unweigerlich an ´Holy Land´ erinnert. Kurz sah ich André Matos vor dem inneren Auge. Der könnte das hier auch wunderbar singen. Könnte. Und so denke wohl nicht nur ich über diesen viel zu frühen Verlust nach.

Um diese drei Säulen ist das Album aufgebaut. Bewusst sage ich um, nicht auf. Denn auch alle weiteren Lieder sind zwar kürzer, aber keinesfalls schlechter. Mit ´Let It Burn´ und ´Always Resist´ finden sich zwei klassische Speed/Power Metal Granaten. ´Sign My Name´ verbreitet auf seine eigene Weise das Flair von ´Carolina IV´. Der Flamenco wird aufgegriffen, stilecht mit Kastagnetten, in ´Down The Road´. ´Shivers And Snow´ sorgt für beschauliche Momente. ´Sound Of Rain´ entführt in einen spätnachmittäglichen Regenschauer. Mit diesem sei noch einmal der Gedanke aufgegriffen, es geht auf ´Hypercube´ nicht nur um Musik, um wirklich gute und spannende und anspruchsvolle Musik. Diese Musik sei auch Aufforderung und Erinnerung, die Farben unserer Erde zu bewahren. Das Grün der Blätter, die vielen bunten Blüten, das Blau des Meeres, all sie und alle anderen sollen erhalten bleiben. Damit wir nicht demnächst in Aschegrau und Schwarz dahinfristen müssen. Wenn sie überhand gewinnen, dann regieren Tod und endlose wirkliche Stille. Ohne Musik.

Der letzte Song ist für alle, die es richtig eingängig mögen. Das fröhliche und fast poppige ´Our Time Is Now´ hätte in den 80ern sicher den Vorwurf geerntet, sich an die breite Masse anbiedern zu wollen. Heute gibt es damit, zumindest bei den Mainstream-Hörern, eher keinen Blumentopf zu gewinnen. Dafür bei mir.

(9  kunterbunte Punkte)

 

https://www.facebook.com/TerraLucasBarbosa


(VÖ: 19.11.2021)