~ 2020 (Heaven & Hell Records) – Stil: Prog Metal ~
Chris Hathcock hat sich erneut den Schreckgespenstern des Lebens gewidmet. Im wahren Leben unterrichtet er Audiotechnik, Musiktheorie und -produktion, doch seine Leidenschaft ist es, in die unvermeidlichen Abgründe des menschlichen Daseins hinabzusteigen. Sein Projekt THE RETICENT ist für ihn zugleich Ventil und Brücke in diese Gedankenwelten.
Vier Jahre nach dem Konzeptalbum ´On The Eve Of A Goodbye´ über die letzten 24 Stunden eines Selbstmörders widmet sich Chris Hathcock nunmehr den letzten Jahren eines Alzheimer Patienten. Angeregt durch die tragische Geschichte eines Verwandten, nannte er die Hauptperson von ´The Oubliette´ dennoch nicht Cyrus, sondern Henry, einem der Alzheimer-Patienten des Dokumentarfilms „Alive Inside“, in dem Musik den Erkrankten nochmals Erinnerungen an ihr Leben wecken kann. Dadurch kann Chris Hathcock auch Sequenzen aus dem Film zur Unterstützung seiner Story einpflegen.
Dass sich der Multiinstrumentalist aus North Carolina während der Aufnahmen zu ´The Oubliette´ selbst mit Schmerztabletten vollpumpen musste, um eine Schleimbeutelentzündung abklingen zu lassen, erhöht den Leidensdruck der in sieben Songs musikalisch dargestellten sieben Stufen noch. Dessen ungeachtet hat Chris Hathcock abermals alle Instrumente höchstpersönlich eingespielt. Leadgitarren-Soli trug James Nelson und ein wenig weiblichen Gesang Amanda Caines bei.
They’re analyzing (agonizing), penalizing (neutralizing), criticizing (minimizing),
fantasizing (ostracizing), paralyzing, supervising (and surmising)
all will be lost soon.
Atmosphärisch startet das Konzept mit der Vorstellung des Protagonisten. ´His Name Is Henry´ steigert sich in immer hektischer werdendes Riffing und entsprechenden Gesang, bis die Musik die Ausbrüche nicht mehr unterdrücken kann. Das Leben in Henrys Pflegeheim wird mit Swing- und Latin-Einsprengseln aufgewertet. Dem sehr atmosphärischen Prog Metal bleibt THE RETICENT indessen treu.
In der zweiten Stufe eines Alzheimer Patienten befindet sich Henry bei ´The Captive´. Mehr Druck in der musikalischen Darstellung und aggressive Growls drücken den Ärger aus, den Henry mittlerweile empfindet, weil er glaubt, festgehalten und von seiner Frau ferngehalten zu werden. Andrew Lovett steuert hierbei ein Saxofon-Solo bei.
Besinnlicher und aufgeräumter erscheint ´The Palliative Breath´ in den wenigen Momenten der Klarheit von Henry. In der vierten Stufe entfernt sich Henry in seiner Gedankenwelt immer mehr und mehr von der Realität und zieht sich in ´The Dream´ völlig zurück. Mehr Prog Rock als Prog Metal offenbart sich in diesen Momenten. Ansonsten gibt sich THE RETICENT progmetallisch zwischen mittelspäten OPETH, frühen SECOND RELATION oder auch KATATONIA – mit leidenschaftlichem Gesang und wenigen harschen Growl-Ausbrechern.
There is no way out.
Schließlich wird das Leben zum Albtraum. Die bösen Schreie der peinigenden Dämonen in ´The Nightmare´ liefert hierzu Steven Wynn. Die Musik flüchtet kurzerhand in den Black Metal sowie in sinfonische Welten. Die vorletzte Entwicklungsstufe zeigt ´The Oubliette´ an und die letzte ´________´. Erst kappt die heimtückische Krankheit jeglichen Kontakt von Henry zur Außenwelt. Henry verstummt in seinem inneren Kerker, siecht in seinem Bett regungslos dahin. Alsbald lassen die Schmerzen nach. Das Ende ist unvermeidlich. Sinfonische Klänge bereiten uns darauf vor. Pieeeep. Henrys Herz steht still: ´________´. Regen. Unaufhörlich. Ein Arzt warnt noch alle vor dieser Krankheit. Dann ist auch das Ende von ´The Oubliette´ gekommen, eine grausame und schreckliche, eine musikalisch beeindruckend abgebildete Welt des Vergessens.
(8 Punkte)
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