Livehaftig

NEW WAVES DAY 2018

~ 26. Mai 2018, Turbinenhalle, Oberhausen ~


SUMMERDAZE – PART II

Da ich letztes Jahr viele Liveberichte vertrödelt habe, kommen diese jetzt nach und nach quasi als „Preview“ auf Ereignisse, die ihr möglicherweise in eurer Jahresplanung berücksichtigen solltet, um aus der Masse an Veranstaltungen die wirklich Herausragenden zu picken.

And now to something completely different. NEW WAVES DAY heißt Trockeneisnebel auf der Bühne, schwarz & gut gekleidete Menschen und die Reminiszenz an die Anfänge des Independent, dem man sich als ECHTER Musikfan besonders durch die Verschmelzung der Szenen heutzutage nicht verschließen sollte und aus dem sich ähnlich viele Unterkategorien entwickelt haben wie aus Hard, Heavy & Metal. Als vom Punk außer einer clever vermarkteten Modeerscheinung lediglich die rohe, musikalische Power und das reale, desillusionierte Weltbild einer sich nicht zum Positiven entwickelnden Konsumwelt übriggeblieben war, entstanden in meinem Universum aus den geistigen Ruinen eben dieser Emotionen auf der einen Seite der deutsche Metaluntergrund insbesondere im Ruhrpott (ich habe gerade einen wunderbar einfältigen, verständnislosen Bericht von damals über die ersten Gehversuche einer Murks-„Punk“-Combo namens SODOM gelesen) und auf der Insel die NWoBHM (deren legendärer erster Sänger Paul DiAnno des Flagschiffes IRON MAIDEN sich selbst auf den Punk beruft) und auf der anderen Seite Freigeister wie zum Beispiel JOY DIVISION, die mit ihrem charismatisch-introvertierten Frontmann Ian Curtis den Zeitgeist der Resignation in depressive als auch explosive Stücke einfingen, die Armeen von nachfolgenden Künstlern beeinflussen sollten – NEW MODEL ARMYs sozusagen, haha!

Also: Auf in die Halle…and into the night!

HOLYGRAM geben sich nahe an eben diesen Urvätern JOY DIVISION, würzen ihr Oeuvre jedoch mit ULTRAVOX-Sphärensounds (die wiederum ihren individuellen Style zu ihrer Hochphase auf den Grundfesten der Düsseldorfer Elektronik mit Schützenhilfe des legendären Conny Plank etablierten), die einen traumhaften Klangteppich weben: `We Are The Sun´ bleibt mir als Hobbyarchäologen dabei in äußerst guter Erinnerung. Brillanter Start!

Früher Horrorpunk mit Tendenz zum heutigen Metal und simplen deutschen Schlagwort-Texten, nennt sich DER FLUCH. Klischeebeladen und minimalistisch, aber unterhaltsam als auch heavy geht man hier rabiat ans Werk – sozusagen die MOTÖRHEAD-Version von DAF. Die `Fürsten der Nacht´ bitten nicht, nein, sie zwingen zum Tanz mit `Der Herr der Fliegen´. Wenn ein Liebeslied `Das Grauen geht um heut´ Nacht´ heißt, dann sollte sich die Liebste einen neuen Schminkkoffer zulegen oder Mütter ihre Töchter einsperren. Kontrovers, aber anders eben.


Die erste Kultcombo heute Nacht (es ist so ca. 17 Uhr, aber die Zeit hat ihre Macht schon verloren) ist CLAN OF XYMOX, welche die Halle folgerichtig mal so richtig voll machen und ich mich frage, warum solch‘ eine für die Szene so immens bedeutende Band so früh auf dem Billing steht.

Äh, falsch – es geht ab jetzt eigentlich nur noch ab. Egal, was aus Post Punk über Wave Gothic Rock (ohne den klischeehaften Beigeschmack heutzutage) über die Jahre wurde, die Darbietung des CLAN OF XYMOX lässt einen förmlich in den goldenen Zeiten dieser Musik baden. Diese Band hat heutige Megaseller wie CRÜXSHADOWS sowas von beeinflusst, den Kontostand der Akteure möchte ich trotzdem nicht sehen. Die Liebe zum Publikum wird durch herzigste Ansagen in feinstem Britdeutsch ausgedrückt. `Your Kiss´ vom jüngsten Album einer dreißigjährigen Undergroundkarriere beendet ein überragendes Konzert. Jederzeit wieder.

Interludium. Saufen? Natürlich können die Unabhängigen genauso wie der leistungsorientierte Metaller ordentlich was wegschlucken und an einem vorzüglichen Sonnentag wie diesem trifft man sich vor der Halle ohne Angst vorm Sonnenlicht und ergibt sich in allerlei Fachsimpeleien. Die ersten zu erwartenden Hits der Hauptacts werden auch schon lautstark skandiert.

Dummerweise lasse ich mich anstecken und verpasse einen fetten Teil des Auftritts von TRISOMIE 21, deren Gitarrist an der Elektronik sehr abwechslungsreich agiert. Ein absolut fabulöses Instrumental erweckt in mit die Vorstellung von „KRAFTWERK der Neuzeit“ – eine schönere Hommage an die Urväter der Elektronik hat es seit `Cosmic Egor´ von THE BEAUTYFUL DEAD nicht mehr gegeben. Allerdings wird das Gesamtwerk am Ende aufgemotzt durch modernen Beatbombast als auch Noisebeats mit Slapbass. Sehr, sehr interessant – allein der Gesang kann der dargebotenen Klasse zumindest live nicht folgen. Trotzdem hatte der letzte Track irgendwas mit „U2 on Electro“ zu tun. Muss ich mir auf alle Fälle noch mal konzentriert zu Hause anhören. Respekt.

Wie bei so vielem aus der Schweiz erwartet die Audience nun mit THE YOUNG GODS wahrhaft avantgardistisches: Elektro-Geigenbombast mit Realdrummer und H.R.Giger Lookalike an den Tasten. Organische Noiseattacken werden dir auf derbste Weise in den Gehörgang gefräst – Metalfreaks aufgepasst: Ich kann’s dem geneigten Hörer nur als Brutalo-NINE INCH NAILS verkaufen. Das ganze tatsächlich ohne echte Gitarren, aber unglaublicherweise fetter als fast alles, was ich je live gehört habe. Dagegen sind Bands wie GOJIRA Schmusecombos. Bei dieser brachialen Urgewalt mit dieser Stimme könnte selbst Carl McCoy vom späteren Headliner FIELDS OF THE NEPHILIM Angst bekommen. THE YOUNG GODS schaffen es, beklemmend-mystisch-packend-laut die Halle fast leerzuschwarten, legen aber trotzdem einen der beeindruckendsten Gigs dieses Abends für mich aufs Parkett. Als Grenzwandler zwischen den Welten bringen hypnotische Drums meine animalischsten Urinstinkte zum Vorschein, die Urform musikalischer Höhlenmenschengemeinsamkeit: We are one tribe.

Das Ganze mündet in eine „Wall Of Sound“ nebst schamanisch-beschwörendem Gesang, sodass ich dem Metaller in mir die Frage stellen muss: Wer kann es mit dieser gelebten Härte aufnehmen? Hier ist Anlagentest bei höchster Lautstärke und bestem Sound angesagt. Der beste Gitarren-Noise-Armageddon ever…ohne Gitarren halt. Versteht ihr nicht? Iss aber so. Verbrennt mich auf dem OLD MAN WIZARD Scheiterhaufen, wenn ihr wollt. Aber erst, nachdem ihr diese Naturgewalt live erlebt habt. Nochmal: Das emotional Härteste, was ich je live erlebt habe. Gesamtkunstwerk. Wie SEX. MURDER. ART.

Der Kontrast könnte hinterher nicht grösser sein: Zwei Gitarren, ein Bass, ein Schlagzeug und ein Sänger, der nicht weniger als eine wahre Ikone des Indie Rock ist. CHAMELEONS VOX ist die Stimme eben dieser THE CHAMELEONS, die wahrscheinlich etliche Bands der Ende Achtziger/Neunziger beeinflusst haben, jedoch nicht mal ihren eigenen Blumentopf im Vorgarten gewonnen haben. Mr. Burgess gibt sich heute – wie so oft bei „uns“ auch praktiziert – mit junger Begleitband die Ehre, die sich im Gegensatz zu Geoffs Backstreetboys allerdings dieser einmaligen Chance und Ehre absolut bewusst sind und ihren Meister würdevoll unterstützen.

In diesen abwechslungsreichen, gar himmlischen Liedern ist einiges von ihren eigenen Weggefährten bzw. Idolen NEW MODEL ARMY oder THE MISSION bis hin zu ULTRAVOX drin. Elegant im Sakko erinnert Mr. Burgess am Bass etwas an Brian Ferry und schenkt uns unvergessliche Songs wie `Monkeyland´‚`Less Than Human´ oder erhabene klingende Mitsinghit `Swamp Thing´ , der Karin als MARILLION-Nummer des Wave überzeugt. `Soul In Isolation´ kommt ebenfalls mit einer frischen Power rüber, sodass ein Ausspruch a là „bäääh – Wave iss‘ mir zu soft“ einfach nicht zählt und nur von absolutem Inselunverständnis zeugt.

Naja, macht nix, iss‘ sowieso Post Punk, Freunde – auch wenn mir diese ganzen `Post-Irgendwas´-Begriffe mittlerweile etwas zu inflationär gehandhabt werden, nur weil man sich von irgendeiner Stilart abgrenzen möchte, aber die `Retro-Innovationen´ nicht mit dem Wörtchen `progressiv´ schubladisieren will. Beschwörende Doors-Parts, die einer dunklen Messe gleichkommen, ufern in die intensivste `Eleanor Rigby´-Verneigung aus, die man sich für kleines Geld live wünschen kann. Und da isser! Der Mitgröhlhit `Second Skin´, den man in freier Wildbahn vorher schon beim Bierchenschlürfen aus allen Ecken hören konnte und der mir die Frage stellt, ob die Indie Szene schon mal einen Fußball-Stadiongassenhauer beigesteuert hat. Auch danach erntet die Band weiterhin tobenden Applaus. Wow, jetzt brennt die Hütte und wer sich unter diesen Events wie dem NEW WAVES DAY eine lethargisch-introvertierte Selbsttänzermenge vorgestellt hat, wird Lügen gestraft. Jeder Titel ein Hit und ich muss mir leider eingestehen, dass ich zu der großen Zeit (sofern man davon sprechen kann) der CHAMELEONS hauptsächlich anderweitig unterwegs war. Aber dank moderner Dienste und Discogs muss ich das umgehend nachholen. `Nostalgia´ beschließt  einen Siegeszug der besonderen Art. Dass ich das noch erleben durfte!

Die Spannung wächst trotz dieser hohen Messlatte. Nun also Vorhang auf für die Urgesteine THE DAMNED, deren Masterminds heute den Altersrekord mit Mitte Sechzig ohne wenn und aber brechen und dazu ihre erste Platte noch kurz vor den SEX PISTOLS rausgebracht haben. Von dem großartigen 2018er Album `Evil Spirits´ wird `Standing At The Edge Of Tomorrow´ präsentiert, danach rappelt der gute, alte `Love Song´ punkig durch die Boxen und mir wird bewusst: THE DAMNED sind die SWEET der Indie Szene.

Sie haben ihre anarchistischen Songs massenkompatibel verpackt. Und sind sich trotzdem bei dem, was sie machen, treu geblieben. `I Just Can’t Be Happy Today´ bringt die totale Freude mit dem Schwurbelkeyboardsolo von Tingeltangelbob Monty Oxymoron, der dann noch bei `New Rose´ durch obskure Tanzeinlagen punktet. Anschnallen, da kommt er schon: Der Hit, den jeder kennen muss, auch wenn es eine Coverversion von Barry Ryan ist, und den THE SWEET auch gerne gelandet hätten: `Eloise´ .

Balladesk fängt das grandiose `Dr. Jekyll & Mr. Hide´ an, welches die Bandbreite dieser Kultcombo unterstreicht. Das heutige Schicksal der Band ist unser Glück, denn die alten Legenden punkrocken gerade Löcher in das mittlerweile umso trinkbereite Publikum des feuchtwarmen Raumes, dessen Großteil wahrscheinlich nur noch Ausdauer für den mysteriösen Headliner zu haben scheint. `The History Of The World (Part 1)´ geht dazu noch als AOR Hammer a lá SURVIVOR mit wesentlich mehr Power durch, wofür die Toleranz einer vielschichtig interessierten Fanschar dann wohl doch ausgereizt scheint.

Auf jeden Fall zeigen hier zwei alte Institutionen der Musikgeschichte – Dave Vanian und Captain Sensible – wo der Hammer hängt. Von der ersten LP anno 1977 föhnt der erste Track `Neat Neat Neat´ nochmal schön rein, inklusive QUEEN-Backings. Glaubt ihr nicht? Iss‘ aber so. Vor dem höchst motivierten Zelebrieren einer beispiellosen Karriere kann ich als Musikfreund nur noch niederknien.

Das Finale hüllt erstmal nicht nur die Bühne, sondern den ganzen Raum in einen filmreifen Tobe Hooper Nebel. Das Auftauchen der FIELDS OF THE NEPHILIM erhöht den Herzschlag, die Bühne erscheint in einer bläulichen Wolke, schwarz, Lederklamotten, lange Staubmäntel, Endzeit-Westernhüte, Sonnenbrillen, ein überlebensgroßer Carl McCoy und dann … die Stimme … und der Hall. Wir reiten los mit `Dawnrazor´ und sogleich erhält der erste Jünger im Publikum mit ausgestreckten Armen die Absolution von den Dark Rock Predigern, die mich mit treibenden Songs wie `Endemoniada´ über die Prairie jagen.

Mit sphärischen Düsterepen entführen sie dein Hirn. Vorbei ist die Zeit für alle Sünder des christlichen Glaubens. Bereits bei `Love Under Will´ erhebt sich der zweite Untertan aus der Menge und huldigt seinem dunklen Messias. Das `Moonchild´ lockt diesmal ein weibliches Wesen aus dem See der mit ihren Körpern verschmolzenen Anhängern.

Die FIELDS OF THE NEPHILIM zeichnen schon seit je her den Kinosoundtrack zur epischen Düsternis, was auch der `Psychonaut´ beweist, der alle Register des hypnotischen Dunkelpredigens zieht mit Tribaldrums, treibendem Basspiel und den Akkorden für ein Halleluja von zwei Gitarren.

Berichterstattung aus. Ich. Muss. Gehorchen. Und. Abfahren. `At The Gates Of Silent Memory´ are we the fallen, like the `Mourning Sun´ . Wem das alles Böhmische Dörfer sind, sollte den `Last Exit For The Lost´ aufsuchen, denn den sollte jeder Musikfreak mal gehört haben.

Mit dieser Darbietung bleiben die FIELDS auch anno 2018 noch anbetungswürdig. Amen.


Den NEW WAVES DAY sollte sich jeder Interessent der guten Unterhaltung in den Kalender eintragen, der übersättigt ist mit den ewig gleichen Hauptacts auf Dreitagesfestivals und der – wie viele von uns Metalheads auch – die Achtziger manchmal vermisst. Aber auch hier sollte man open minded sein, denn wie im Metalbereich Samples und Keyboards oft schockieren, reagieren hier manche verständnislos auf heavy Riffs und Gitarrensolos. Du hast nur ein Leben. Die Zeit ist zu kurz um engstirnig zu sein. Nutze sie. Music is the key.