
NIRVANA – The Show Must Go On: The Complete Nirvana Collection (Box Set)
1967-1998 / 2025 (Madfish) - Stil: Psychedelic Pop Rock
Ich bin schon erschrocken, was denn eine NIRVANA Veröffentlichung bei mir sucht. Da wäre ich jetzt im Falle der US-Amerikaner nicht der geeignete Experte. Aber es handelt sich um die UK-Band gleichen Namens, die vor allem vor rund 55-60 Jahren aktiv war. Auch da bin ich bisher ehrlichweise nicht der Experte gewesen. Hatte da noch keine größeren Berührungspunkte. Und 12 CDs? Oh je! Aber ich habe mich gewissenhaft durch die Box durchgehört und meist war es ziemlich unterhaltsam. Beim Aufkommen der US NIRVANA gab es übrigens eine Auseinandersetzung um Namensrechte, die außergerichtlich beigelegt wurde. 1996 wurde ´Lithium´ von den UK NIRVANA als Coverversion eingespielt. So viel erst einmal als Opening.
Der irische Bassist und Sänger Patrick Campbell-Lyons gründete die Band Mitte der 60er-Jahre mit dem griechischstämmigen Songwriter und Pianisten Alex Spyropoulos und dem Gitarristen Ray Singer. Die Band wurde schnell um weitere Musiker oder auch Musikerinnen wie die Cellistin Sylvia Schuster erweitert. Mit Klassikern der Rockgeschichte wie SPOOKY TOOTH oder TRAFFIC, die auf dem gleichen Label waren, war die Band auch im Konzertgeschehen aktiv. Mit ihrem sanften, psychedelischen Sound war sie da aber sicher Außenseiter. Bald waren nur noch Patrick Campbell-Lyons und Alex Spyropoulos mit wechselnden Musikern aktiv. Oder Patrick sogar irgendwie alleine.
Hier nun 12 Compact Discs und ein ausführliches 88 Seiten Buch in einer limitierten Box. Acht Alben (eines davon doppelt) mit viel Bonusmaterial. Und wohl jetzt remastered von den Original Tapes. Bisher gab es viele Wiederveröffentlichungen aus schwachen Quellen, wie LPs oder Kassetten, was es für potenzielle Konsumentinnen und Konsumenten schwer machte.
Disc 1 und 2 – Das Debütalbum ´Story Of Simon Simopath´:
Das Debüt von 1967 gibt es in Mono und Stereo: Klassischer 60er- Jahre Stuff. Bombastisch mit psychedelischen Einflüssen und Spuren der wichtigen Bands der Dekade, meist eher kurze Spielzeiten der Songs. ´Wings Of Love´ oder ´Satellite Jockey´ haben kommerzielles Potenzial. ´Pentecost Hotel´ war ein potenzieller Hit. Das sanfte, sich dynamisierende ´Lonely Boy´ sehr gut mit Orgel und Bläsern. Alles sehr zerbrechlich gesungen. Bis auf das fröhliche ´1999´ zum Schluss. Nichts Revolutionäres, aber sehr gefällig und mit eigener Handschrift. Texte über Mitmenschen, Ansatz zu einem Konzept. Eine “Rock Opera”, wie man das damals mehr oder weniger treffend nannte. Sicher ein starker Auftakt. Sehr britisch. Mir gefallen die Stereoversionen insgesamt persönlich besser als Mono. Aber das ist eine Glaubenssache und Glauben ist nicht so meine Sache.
Disc 3 – ´All Of Us´:
1968 gelang mit dem schwülstigen Opener ´Rainbow Chaser´ der einzige Top 40 Titel in UK. ´All Of Us´ schließt im Großen und Ganzen am Debüt an. Meist kurze, bombastisch und psychedelisch beeinflusste Titel. Mit dem vierminütigen, sehr schönen ´Tiny Goddess´ ging man auch einmal bei der Spielzeit etwas hinaus. Wäre auch ein netter THE BEATLES Titel geworden. Auch das folgende ´The Touchables (All Of Us)´ hätte durchaus Hitpotenzial gehabt. Insgesamt sehr viel Softes und Sanftes. Es fehlt etwas die Abwechslung. Allerdings gibt es auch wenige wirkliche Schwachpunkte, wie das etwas nervige ´Frankie The Great´ oder das grauselige Kinderliedchen ´Everybody Loves The Clown´. Das dynamisch rockende, experimentelle ´St. John’s Wood Affair´ zum Schluss ist ein gelungener Abschluss. Nicht viel schwächer als das Debüt.
Disc 4 – ´Dedicated To Markus III´:
Die Songs sind teilweise etwas länger. Das wieder bombastisch startende ´The World Is Cold Without You´ gibt den Weg für die insgesamt zehn Songs vor. Eine leichte Weiterentwicklung ihres Sounds, ohne wirklich große Neuerungen. ´Christopher Lucifer´ hat einen etwas rockigeren Ansatz, setzt aber – wie so oft – opulente Chöre ein. Sonst überwiegen wieder zuckrige Songs wie ´Très, Très Bien´, die aber immer sehr gut anhörbar sind. Ein Höhepunkt sicher die sechsminütige ´Love Suite´ mit vielen interessanten Ansätzen und weiblichem Gesang von Leslie Duncan, die vor Ewigkeiten eine Single mit meinem Lieblingsmusiker Phil Lynott und u.a. Kate Bush im Backgroundgesang aufnahm. ´Love Suite´ geht schon etwas in die eher experimentelle Art Rock-Richtung der folgenden Alben über. Übrigens Tony Visconti war an den Arrangements / der Produktion mit beteiligt.
Disc 5 – ´Local Anaesthetic´:
Das vierte Album von 1971 war sehr experimentell. Schon der 16-minütige Opener ´Modus Operandi´ pendelt modular zwischen Rock auf den Spuren der STONES, Psychedelic Rock und Art Rock. Teilweise mit vielen Flötentönen. Etwas sehr fragmentarisch. ´Home´, Song zwei ist in verschiedenen Phasen über 19 Minuten verteilt und beginnt nicht minder exzentrisch und experimentell. Auch zunächst nur mit Geduld genießbar, wenn auch dann eingängige und sanfte Passagen immer wieder auftauchen und sehr britisch klingen. Und der Gesang ist wie meistens sehr gefällig. Und auch sehr britisch. Insgesamt durchwachsen.
Disc 6 – ´Songs Of Love And Praise´:
Das fünfte Album von 1972 ist wieder stark in den 60er-Jahren verwurzelt. Sanfter, psychedelischer Rock mit Flower Power-Einflüssen. Songs wie ´Please Believe Me´ oder ´She’s Lost It´ sind sehr schön, aber auch ganz schön antiquiert. Und ziemlich eingängig. Klingt mal wie THE KINKS oder andere britische Rocker der 60er-Jahre. Melodisch und melancholisch. Mal etwas progressiver wie bei ´I Need Your Love Tonight´. Gutes Album, ohne revolutionäre Ideen. Wobei das siebenminütige ´Stadium´ sich ziemlich progressiv entwickelt mit viel Orchester im zweiten Teil. ´Ad Lib´ zeigt sie am Schluss von einer rockigen Seite.
Disc 7 – ´Orange And Blue´:
1996 veröffentlicht, klingt es ab dem Opener und titelgebenden Song, wie aus der Zeit gefallen. Gnadenlos retro, trotz versuchter Auffrischungstendenzen. ´Lithium´ wurde witzigerweise von den US-amerikanischen Namensvettern gecovert, aber in den orchestralen Sound integriert. ´Stone In The Water´, ´Busy Man´, ´Allison Smith´ oder ´As Long As I Can See You´ sind wieder auf den Spuren britischer Größen wie THE BEATLES oder THE KINKS. Auch ´Lost In Space´ erinnert an die Liverpooler Fab Four. Der Schmachtfetzen ´Our Love Is The Sea´ beendet das Album. Insgesamt ganz gutes Album über 40 Minuten, aber 30 Jahre zu spät. Nur ´What Are We Gonna Do Now´ klingt etwas zeitgemäßer. Mit Betonung auf “etwas”, vor allem wegen der zeitgenössischen 90er-Jahre Keyboards.
Disc 8 – ´Me And My Friend´:
Eigentlich ein Solo-Album von Patrick Campbell-Lyons. Das Album beginnt mit einem lockeren Fusionssound, bevor mit ´Friends´ wieder in eher angestammte Gefilde gewechselt wird – mit Gospelchören. Insgesamt direkter und etwas rockiger als die Vorgängeralben unter dem Bandnamen, z.B. beim Titelsong. Songs wie ´Everybody Should Fly A Kite´ sind aber ähnlich gelagert wie die Bandsongs. Nur die Chöre sind noch massiver. Fazit: zugänglicher, aber auch deutlich trivialer aus meiner Sicht.
Disc 9 – ´Secrets´:
´Secrets´ wurde ursprünglich 1972 aufgenommen, aber erst später 2021 im 6er-LP Boxset ´Songlife´ veröffentlicht, da Patrick Campbell-Lyons 2020 die Masterbänder wiederfand und mit Alex Spyropoulos das Album neu mischte. Nach kurzem Intro kommt mit ´I Don’t Care´ ein eher durchschnittlicher Song. Danach wird es prätentiös und die Songs sind eher fragmentarisch. ´Bingo Boy´ geht aber wieder eher in die alte Richtung. Vom Songwriting nicht immer überzeugend und eher oberflächlich und seltsam im Vortrag in Richtung Musical. Es wurden verschiedene Gastsänger eingesetzt. Das macht es nicht unbedingt immer besser.
Disc 10 – ´Bonus Material (1)´: A collection of rare B-sides, alternate takes, and early versions, including collaborations with Spooky Tooth
Disc 11 – ´Bonus Material (2)´: Demos, instrumentals, and alternate mixes
Disc 12 – ´Bonus Material (3)´: Later-era rarities and unreleased tracks
Drei CDs voller Outtakes, Raritäten und teilweise interessanten B-Seiten. Mit Songs wie dem musikalisch ungewöhnlichen ´Requiem To John Coltrane´ oder dem schmelzigen ´Darling Darlene´ gibt es die eine oder andere Perle. Schon eine musikhistorische und musikarchälogische Aufgabe, sich hier durchzuhören. Auf Details verzichte ich hier deshalb gerne. Nur natürlich nicht auf die interessante Kollaboration mit einer meiner Lieblings-Bands, den (auch) vergessenen SPOOKY TOOTH auf der ersten Bonus-Disc bei ´Oscar (Oh! What A Performance)´ in einer kurzen und langen Version. Wenn auch die Kooperation zwischen den harten Blues Rockern und den sanften Pop Rock-Musikern eher ungewohnt ist, aber gut aufgeht. Und natürlich deutlich härter als das meiste Material ist, schon alleine wegen des leidenschaftlichen Gitarrensolos zum Schluss.
Fazit: Für Zeitzeugen oder Liebhaberinnen und Liebhaber dieses speziellen britischen Sounds sicher ein wichtiges Stück Rockgeschichte. Meist sehr gut im damaligen Zeitrahmen produziert, aber teilweise auch etwas skurril. Das erklärt vielleicht, warum die Band bei der kritischen Zunft meist besser als beim zahlenden Publikum ankam. Das Debüt und die beiden Nachfolger waren prinzipiell konkurrenzfähig zu anderen Bands dieser Musikrichtung. Die Band hatte eine Nische im britischen Rockgeschehen gefunden.
Schöne Wiederentdeckung oder Neuentdeckung (wohl für die meisten). Es muss allerdings schon ganz schön viel Kohle investiert werden. Vielleicht gibt es auch die sinnvolle Alternative, einzelne Alben erst anzutesten.
(Keine Gesamtwertung. Die ersten drei Alben und Album Nr. 5 würde ich insgesamt bei um die 8 Punkte ansiedeln. Den Rest schwächer oder im Falle der letzten drei CDs ohne Wertung).
PIc: Gered Mankowitz
(VÖ: 12.09.2025)