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HOOTIE AND THE BLOWFISH – Cracked Rear View

~ 1994/2024 (Analogue Productions/Atlantic 75 Series) – Stil: Rock ~


Mitte der Neunzigerjahre, als die Grunge-Bewegung längst ihren Höhepunkt überschritten hat, sind HOOTIE AND THE BLOWFISH der sensationelle Newcomer. Das Debüt-Album der US-amerikanischen Rockband aus Columbia erscheint im Juli 1994, drei Monate nach dem Tod von Kurt Cobain, und wird im Januar 1995 mit Platin ausgezeichnet. ´Cracked Rear View´ schwingt sich zum meistverkauften Album des Jahres 1995 empor und erhält 21fach Platin. Mit über zehn Millionen verkaufter Exemplare gehört es samt seiner fünf Singles und vier Hit-Blockbuster (´Hold My Hand´, ´Let Her Cry´, ´Only Wanna Be With You´ und ´Time´) zu den meistverkauften Musikalben aller Zeiten.

Es erscheint derzeit zum 75-jährigen Jubiläum von „Atlantic Records“ im echten Goldstandard auf Vinyl. Denn „Analogue Productions“ haben sich dem Jubiläum angeschlossen und veröffentlichen die Scheibe ihrerseits auf einem 180g schweren Doppel-Vinyl mit 45 rpm, natürlich gepresst bei „Quality Record Pressings“, vom analogen Original-Masterband von Ryan K. Smith in Nashville gemastert, in einem aufklappbaren Gatefold Double Pocket Jacket. Der einzige Makel dieses wundervollen Gatefolds sind in der Tat fehlende Texte.

Die bekannte Zusammenarbeit von „Acoustic Sounds“, „Analogue Productions“ und „Quality Record Pressings“ führt allerdings zu diesem unglaublichen Sound, der diese Pressung gegenüber den bislang bekannten Maßstäbe setzen lässt, den Zuhörer nochmals 30 Jahre zurückwirft und scheinbar direkt vor den wild aufspielenden Jungs platziert.

Gegründet 1986 unter dem Namen HOOTIE AND THE BLOWFISH, von Sänger/Gitarrist Darius Rucker und Gitarrist Mark Bryan während ihrer Zeit an der University of South Carolina, geht der Bandname auf zwei Spitznamen ihrer Freunde auf dem College zurück. Mit Bassist Dean Felber und Schlagzeuger Brantley Smith, alsbald ersetzt durch Jim „Soni“ Sonefeld, veröffentlichen sie 1991 und 1992 jeweils eine Demo-Kassette sowie 1993 eine EP in einer Auflage von bereits 50.000 Exemplaren. Im August 1993 unterschreiben sie bei „Atlantic Records“. Seither werden sie geliebt und gehasst, verflucht und vergöttert.

In den Jahren vor ihrem Debüt gelten HOOTIE AND THE BLOWFISH als unvermittelbar. Selbst mit der Veröffentlichung ihres Debüts haftet ihnen ein Makel der Uncoolness an. Dem gegenüber zeigt sich jedoch mit jeder weiteren Platin-Auszeichnung eine große Diskrepanz gegenüber ihrem tatsächlichen Erfolg. Denn HOOTIE AND THE BLOWFISH haben anno 1994 nicht die richtigen Klamotten und den richtigen Look. Sie sind nur gekommen, um den Grunge zu zerstören. Ein Auftritt in der „Late Show with David Letterman“ bringt sie über Nacht auf die Erfolgsspur. Es ist die Nacht, in der die Grunge-Welle endet. Von hier an heißen die neuen Helden HOOTIE AND THE BLOWFISH. Geliebt und gehasst. Doch nur für kurze Zeit, weitere kommerzielle Rock-Acts werden ihre Spuren kreuzen.

HOOTIE AND THE BLOWFISH spielen allerdings nie so sehr im Pop auf wie vor ihnen bereits die COUNTING CROWS oder nach ihnen MATCHBOX TWENTY. Sie haben den Groove der Jam-Bands im Blut und bleiben samt aller Anklänge an Roots und Country Rock, Heartland und Blues Rock sowie der großartigen Bariton-Stimme von Darius Rucker eine echte Rock-Band der Neunzigerjahre.

Und die Songs? Schritt für Schritt wird der bullige Rock-Sänger Darius Rucker von ´Hannah Jane´ verlassen, führt den Hörer mit der ersten Hit-Single ´Hold My Hand´ und etwas Südstaaten-Gospel in das gelobte Land und löst damit überraschenderweise keinen neuen Sezessionskrieg aus.

Er singt zur Akustikgitarre in der Hoffnung auf einen besseren Morgen schlichtweg die nächste Hit-Single ´Let Her Cry´. Er liebt die „Miami Dolphins“ und sein Mädel, nur Bob Dylan mag Darius Rucker nicht, weil er in der nächsten Hit-Single ´Only Wanna Be With You´ als Hommage einige Zeilen von ihm verwendet.

Mit Geige und Bongos lässt Darius Rucker sogar seinen betrügerischen Bruder in ´Running From An Angel´ stehen. Mit ein wenig „Sha la la la, sha la la la“ begleitet er in ´I’m Goin’ Home´ seine Mutter aus dem irdischen Leben.

Darius Rucker hat bei der nächsten Single ´Drowning´ auch einige wunderbare Ratschläge und Fragen parat – „Time to make the world a better place“, “ Hating, everybody else ’cause they don’t look like you“ und „Why must we hate one another?“ – und die Gitarre ein paar THIN LIZZY-Licks auf Lager. Daher kämpft er in der nächsten Hit-Single ´Time´ mit den Schmerzen der Gegenwart und dem Morgen, in ´Look Away´ dagegen mit der Liebe zu einem Mädchen, dessen rassistischer Vater ihr Verhältnis nicht zulässt.

Ohne Mutter, ohne Bruder spürt er in ´Not Even The Trees´ den Schmerz der Einsamkeit. Ja, der bullige Rocker Darius Rucker ist auch von seinem Mädchen verlassen worden, das jetzt mit einem anderen Händchen haltend durch die Straßenschluchten zieht und er ihr nur noch die Piano-Ballade ´Goodbye´ hinterherschicken kann.

HOOTIE AND THE BLOWFISH sind salopp gesprochen ganz und gar eindrucksvolle Musik für die Massen, aber keiner will dabei gewesen sein, ein echtes Kuriosum der Neunzigerjahre. Vielleicht will auch das überwiegend „weiße“ Rock-Publikum im Nachhinein nichts von einem „schwarzen“ Sänger über Rassismus, Drogen und Liebesschmerz hören. Die Ironie des Schicksals ist, dass sich seither der US-amerikanische Mainstream Rock extrem gewandelt hat und die Hörer jetzt dementsprechend mit modernem Country Rock vorlieb nehmen müssen und sich zudem Darius Rucker als äußerst erfolgreichen Country-Sänger anhören dürfen.

Dieser glücklose Klassiker kann natürlich nur aus den Neunzigerjahren stammen.

 

 

Gesang, Gitarre – Darius Rucker
Gitarre – Mark Bryan
Bass – Dean Felber
Schlagzeug – Jim „Soni“ Sonefeld

 

https://www.facebook.com/hootieandtheblowfish