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TILL LINDEMANN – Zunge

~ 2023 (Independent) – Stil: Industrial/Rock ~


Nach der Tour ist vor der Tour. Nachdem RAMMSTEIN bereits 2022 und 2023 auf großer Europa-Tournee unterwegs waren, setzen sie auch 2024 ihre „Europe Stadium Tour“ fort. Nach dem Skandal ist vor dem Skandal. Nachdem RAMMSTEIN-Sänger Till Lindemann von jeglichen, aus der Skandal-Presse bekannten Anschuldigungen freigesprochen worden war („Doch kommt es vor, dass man sich irrt, wenn Herz und Geist so sehr verwirrt“, aus dem Titelsong), schockiert er seine Anhänger aktuell mit einem Schlagersong („Ich rödel‘, rödel‘, rödel‘, ich rödel‘ den ganzen Tag, ich ri-ra-rödel‘ ständig, weil mir das Freude macht.“).

Tatsächlich hat er auf seinem neuesten Solo-Album, das er im November und Dezember in dreizehn Ländern auch live präsentieren wird, einen Hidden-Track versteckt, der ihm eine Einladung bei Florian Silbereisen oder im Bierkönig von Palma de Mallorca einbringen könnte. Diese Schlagerparodie könnte natürlich in Wahrheit ein musikalischer Seitenhieb auf eine bekannte Persönlichkeit aus dieser Heilen-Welt-Showbranche sein.

Glücklicherweise beschränkt sich Till Lindemann ansonsten auf zeitgenössische Metal-Musik, in industrieller Form mit sinfonischen und hymnischen Momenten, bisweilen mit weiblichem, mit ergiebig hochtonigem Hintergrundgesang. Er tritt auch nicht mehr mit Peter Tägtgren unter dem Projektnamen LINDEMANN an, sondern auf sich allein gestellt als TILL LINDEMANN. Zudem ist die RAMMSTEIN-Frohnatur solistisch aggressiver als zuletzt unterwegs.

 

 

Natürlich könnten Songs wie ´Zunge´ oder ´Du hast kein Herz´ auch von der erfolgreichsten deutschen Musikgruppe stammen, genaugenommen tönt das gesamte Album wie RAMMSTEIN auf der Heavy Metal-Bühne des Irrenhauses, doch Till Lindemann hat neben der Haudrauf-Attitüde auch einige Experimente gewagt. Dabei stechen besonders die Flamenco-Nummer ´Tanzlehrerin´ mit Handclaps („Ich hab‘ den Schwanz wieder drin, in meiner Tanzlehrerin.“) und das seltsam gruselige ´Alles für die Kinder´ heraus. Letzterer Song scheint Kindheitserinnerungen oder das Böse der Natur in einem Horrorfilm abzuspulen. Dagegen überrascht die Ballade ´Übers Meer´ mit klassisch alten Synthesizern.

Ansonsten erlebt der Zuhörer einige Körperbegehungen mit emotionaler Tiefe. Till Lindemann singt nicht nur von seinem losen Mundwerk (´Zunge´), sondern betrachtet den langsamen körperlichen Niedergang (´Altes Fleisch´) und schämt sich für die eigene, unaufhörliche Transpiration (´Schweiß´). Im Übrigen entfaltet er seine Wortakrobatik im operettenhaften (´Nass´) und im rauen Gesang beim stampfend bösen Groove des völlig überragenden Modern Metal (´Lecker´). Eine große Sportlerhymne gibt sich unter dem Titel des Sportlergrußes aus der Arbeitersport-Bewegung ´Sport Frei´ äußerst kritisch, ehe sich passend zum originären Abschluss der Scheibe der narzisstische Lärm sehr ´Selbst verliebt´ äußert.

Till Lindemann jedenfalls liebt sich und seine Anhänger, die wiederum auch sein drittes Solo-Werk lieben werden, das in etwa einer frischen Mischung aus seinem ersten, dem 2015er ´Skills In Pills´ und dem Sound von RAMMSTEIN gleichkommt: „Ja, das ist gut. Ja, das ist fein. Es könnte gar nicht fetter sein.“

(9 Punkte)

 

https://www.facebook.com/tilllindemann