~ 2023 (Partisan Records) – Stil: Folk Rock/Art Rock/Experimental ~
Vor über dreißig Jahren erschütterte ihr mitreißendes Albumdebüt ´Dry´ die Musikwelt, und es ist ein Segen zu sehen, dass PJ Harvey nach ihren eigenen Vorstellungen immer noch äußerst unabhängige Musik macht. Sie ist zweifellos eine der mutigsten Künstlerinnen Großbritanniens, und kein einziges ihrer Werke klingt gleich.
´I Inside The Old Year Dying´ ist nun Harveys erster richtiger Longplayer seit sieben Jahren und soll auf dem Gefühl basieren, den Orientierungssinn verloren zu haben, und der Frage, ob wir den Rest unserer Zeit damit verbringen werden.
Nachdem sie ihre Tour für das ´Hope Six Demolition Project´-Album 2016 beendet hatte, befand sich die Künstlerin an einem Scheideweg und war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch eine weitere Soloplatte schreiben würde. Es war ein Konzeptalbum, das die schwierige politische Landschaft der 2010er Jahre untersuchte und sich tiefer mit den Themen befasste, die mit dem meisterhaften ´Let England Shake´ von 2011 eingeführt worden waren.
Das Schreiben von Gedichten, insbesondere ihres Epos ´Orlam´ von 2022, wurde zur Blaupause für dieses Album, und tatsächlich besteht der Eröffnungstitel ´Prayer At The Gate´ aus dem ersten Kapitel eben dieses Gedichts. Der Song wirkt, als sänge sie absichtlich, als wäre sie wesentlich älter, was der hypnotischen Nummer eine ungemeine Zerbrechlichkeit verleiht.
Die zwölf Songs des Albums bewegen sich jedenfalls zwischen spektral und geglättet, wobei Harvey diesmal Field Recordings und weitere Effekte nutzt, um faszinierende Hintergrundtexturen zu erschaffen. Sie verbindet dabei Intimität und Experimentelles, um etwas aufregend Einzigartiges zu schaffen, natürlich wieder pastoral und poetisch, aber mit Momenten des Unbehagens und prall an explosiven Ausbrüchen. Es ist zugleich eine Rückkehr zu etwas Persönlicherem und Nachdenklicherem, und das gesamte Projekt strahlt eine wesentlich ruhige Zuversicht aus.
Auch wenn ´I Inside The Old Year Dying´ sowohl klanglich als auch thematisch Neuland betritt, gibt es für langjährige Fans dennoch viel zu lieben. Der Titelsong etwa klingt, als würde er gut zu ihren letzten beiden Platten passen, und der Beinahe-Titelsong ´I Inside The Old I Dying´ enthält weitere Texte, die den Prozess von Transformation darstellen sollen und weckt ebenfalls Reminiszenzen an ältere Stücke der Künstlerin. Der Schlusssong des Albums, ´A Noiseless Noise´, ist voller Mut und erinnert mit seinen Punk-Vibes sogar an ihre härtere Phase auf ´Rid Of Me´.
´I Inside The Old Year Dying´ entstand aus einem Bedürfnis nach Neuem, in dem Harvey eine erfrischende Interpretation des Zwecks von Kunst außerhalb ihrer wörtlichen Bedeutung präsentiert. Durch die erneute lyrische Auseinandersetzung mit ´Orlam´ gelingt es ihr hier, sich selbst eine neue Richtung zu geben, die es ihr ermöglicht, aus dem nie endenden Kreislauf auszubrechen, der ihre Kreativität unterbrochen hatte. Wieder einmal: meisterlich!
(9 Punkte)
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Pic: Steve Gullick
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