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WUCAN – Heretic Tongues

~ 2022 (Sonic Attack Records – SPV/The Orchard) – Stil: Retro Rock ~


 

Revolution ist das Morgen schon im Heute, ist kein Bett und kein Thron für den Arsch zufried’ner Leute

Zuallererst, das Gezerre wegen Female Fronted Bands ist so unnötig wie ein Kropf. Mir persönlich ist es völlig Wurscht, ob da eine Frau singt, ein Mann oder ein Kakadu. Hauptsache ist doch, das Ergebnis gefällt.

WUCAN ist so eine Band, die ich schwer liebe, seit ich sie erstmals zu hören bekam. Ihr Debütalbum, das einer EP folgte, säte 2015 den Wind, auch wenn noch nicht alles perfekt war und nicht jeder Track ein Hit. Es gab Passagen, da haben sie sich verzettelt, aber sie sind immer charmant und kauzig geblieben. Der Nachfolger kam zwei Jahre später und erntete den Sturm. Das war ein echter Knaller. So konnte ich nicht umhin, an der Crowdfunding-Aktion für Album drei teilzunehmen. War ich doch überzeugt, das wird groß. Und mit ´Heretic Tongues´ legen sie noch ein paar Schippen drauf. Das schaffen sie, indem sie ganz sie selbst bleiben, sich nicht irgendwo anbiedern, ihr eigenes Ding durchziehen. 

Ganz klar, Francis T. fällt schon auf. Nicht, weil sie als Frau einer Band vorsteht. Nein, sie tut es mit ihrem kraftvollen Gesang und dem expressiven Spiel der Flöte. Ansonsten ist sie Prima Inter Pares, ein Teil des Ganzen, sie wäre wenig ohne ihre Mitmusiker. Erst die bieten die Bühne, die Francis als Frontfrau braucht.

Der Opener ´Kill The King´ ist kein RAINBOW-Cover. Er rockt aber für den Anfang richtig schön nach vorne. Die dadaistischen Silbenbausteine habe ich so auch lang nicht mehr gehört. Richtig fette Nummer, nicht aber die letzte. Danach folgt mit ´Don’t Break The Oath´ wieder kein Cover, obwohl ich mir vorstellen könnte, das würde zu den Dresdenern passen. Schöner Mitgröl-Chorus, das könnte sicher ein angehender Liveklassiker werden. Ein freakiger Mittelteil, ganz genau so, wie ich mir das wünsche. „Seid ihr bereit?“ für ´Fette Deutsche´? Es kommt mir so vor, das WUCAN bisher selten so direkt und unverblümt ein Thema angerissen haben.

Es folgt ein zweiteiliges Lied über Weggehen und Wiederkommen. ´Far And Beyond´, Alleinsein und Zweifel, Verlassenheit und Trauer machen sich breit. Das ist das Los bei Fernbeziehungen, bei Menschen, die beruflich viel und weit reisen, bei Menschen auf der Flucht. ´Until We Meet Again´, tanzend vor Freude das Herz, weil man sich bald wieder in die Arme schließen können. Ein wenig kennt wohl ein jeder solche Gefühle. Die Prise Funk und Disco geht mir sehr gut rein, auch weil sie diese Vorfreude passend vertont. 

Und noch ein Songtitel, der mir bekannt vorkommt. Dieses Mal sogar ist es ein Cover. ´Zwischen Liebe Und Zorn´, im Original 1972 von der KLAUS RENFT COMBO. Das ist eines der Lieder, die der Führung der DDR schwer im Magen lagen, dass die Band sich auflösen musste. Erst 1990 konnten sie wieder so richtig frei aufspielen. Und WUCAN beweisen, dass das Lied heute immer noch aktuell ist, vielleicht aktueller denn je. Aus der Kritik an den Zuständen im Osten unter Ulbricht und Honecker wird so Kritik am Miteinander im Heute.

Alle Zeit drängt nach vorn
Das Lebendige und regt sich
Zwischen Liebe und Zorn
Reift der Mensch und er bewegt sich
Auf sich zu immer mehr
Was für den nicht angenehm ist
Der am Hintern zu schwer
Und im Kopfe zu bequem ist.

Kurze Anmerkung, unter dem Titel ´Zwischen Liebe und Zorn. Jungsein in der Diktatur´ ist seit 2009 eine Wanderausstellung unterwegs, die sich mit der Lebenswirklichkeit junger Leute in der DDR beschäftigt.

Am Ende gibt es traditionell einen Longtrack. Dieser ist betitelt ´Physical Boundaries´. Langsam eingroovend, sich Zeit nehmend, dennoch stringent auf den Punkt wirkt er weniger verzettelt als etwa der ´Wandersmann´. Was letzteren nicht schmälern soll, so voller Ideen. Selten habe ich Francis Stimme so zerbrechlich empfunden, wie in einigen Passagen hier. Wer Flöten nervig findet, Finger weg. Ich aber finde genau diese Mischung aus Psych und Kraut und Hard Rock so verlockend, so fesselnd. Es ist sicher keine Ketzerei, keine Häresie, wenn WUCAN sich mit ihrer dritten Scheibe unter die zehn besten, geilsten, spannendsten, fesselndsten Bands Deutschlands spielen. Ich kann nicht anders, aber hier kann nur die Höchstnote her.

(10 Punkte)

Mario Wolski

 

 

 

 

Selbst wenn eine Musikgruppe die Flöte für ihren Sound nutzt, muss sie nicht gleich als Retro Rock gelten und nach JETHRO TULL zu Zeiten ihres Welthits ´Locomotive Breath´ tönen. Schließlich hatten schon THE TROGGS (´Wild Thing´) und die ROLLING STONES (´Ruby Tuesday´) in den Sechzigerjahren eine Flöte integriert und LED ZEPPELIN (´Stairway To Heaven´), THE MOODY BLUES (´Nights In White Satin´) oder gar FOCUS (´House Of The King´) Jahre später etwa ebenso das Instrument für sich entdeckt. Der Metaller erinnert sich natürlich an die Sternstunde von Buddy Lackey und PSYCHOTIC WALTZ, aber auch Folk und Pagan Metaller benutzen in der Gegenwart gerne die Flöte. Sogar Annie Lennox und die EURYTHMICS nutzten im Pop von ´Never Gonna Cry Again´ eine solche.

Die Dresdener von WUCAN möchten allerdings weder eine Retro-Hardrock-Band sein, noch schielen sie nach der Popmusik. Ihre Musik übernimmt schlicht die Errungenschaften der Rockmusik seit den Sechzigerjahren und lebt sie in angloamerikanischer als auch krautgermanischer Weise aus. Sie wollen mit Sängerin und Bandleaderin Francis Tobolsky an der Flöte weder die neuen JETHRO TULL aus dem Westen noch die neuen BERLUC oder BLITZZ aus dem Osten werden. Sie möchten schlicht in der Gegenwart als WUCAN für ihre eigenen Songs geliebt und gehört werden. Daher ist ´Kill The King´ auch keine Coverversion von RAINBOW und ´Don’t Break The Oath´ hat keinerlei Verwandtschaften zu MERCYFUL FATE.

Die bei ´Heretic Tongues´ ins Studio transportierte Live-Energie reißt allerdings jeden Zuhörer mit. Dafür müssen und wollen WUCAN geschätzt werden. Obwohl einiges beinahe an einen Live-Jam erinnert, schließlich sind die wilden Siebzigerjahre das große Vorbild, und einige Andeutungen nicht zu Ende gedacht sind, ist die verbreitete Entschlossenheit und unaufhaltsame Spielfreude sensationell.

Der Volldampf-Rocker ´Kill The King´ eröffnet jedenfalls mit Kraft und Verspieltheit das Werk. Die Instrumental-Fraktion, Tim George (Gitarre, Synthesizer), Alexander Karlisch (Bass) und Philip Knöfel (Schlagzeug), als auch Sängerin Francis Tobolsky (Gitarren, Synthesizer) zeigen sich in Hochform. Selbst für „Hey, na, na“-Gesänge ist zu diesem frühen Zeitpunkt auf der Scheibe Platz. Die Gitarren von ´Don’t Break The Oath´ röhren daher wie aus einem kleinen Berliner Proberaum-Keller an das Tageslicht, während der Gesang auch von DORO kommen könnte, aber der Song nicht aus dem Circle von DEMON. Für Krautrock- und Ostrock-Liebhaber rast sogar der bis auf die Flöte eher nach Achtzigerjahre klingende, auf Deutsch gesungene Hardrocker ´Fette Deutsche´ um den Block.

Während ´Far And Beyond´ mit Melancholie durch den Kosmos der Siebzigerjahre trabt, stellt sich ´Far And Beyond (Until We Meet Again)´ zum 70s-Disco-Funk in eben dieser in das Scheinwerferlicht. Die Musik bleibt somit eindeutig in den Siebzigerjahren verwurzelt. ´Zwischen Liebe und Zorn´, der zweite auf Deutsch gesungene Song, passt sich dieser Ästhetik an. Kein Wunder, denn der Song stammt im Original von der KLAUS RENFT COMBO und aus dem Jahre 1972. Das epische und zwölfminütige Finale spielt ´Physical Boundaries´ in aller instrumentalen Dynamik und Vielseitigkeit aus.

WUCANs ´Heretic Tongues´ ist im Hier und Jetzt natürlich die perfekte Platte für alle Hörer der Streaming-Angebote, obwohl solch eine Musik einfach nur auf Vinyl genossen werden kann. Doch die musikalische Vielfalt wird auf dem Werk derart großgeschrieben, dass beim Streaming der Gedanke aufkommen könnte, das System wechselt von einer fantastischen Hardrock-Playlist zur nächsten. Obendrein läuft die Scheibe für die heutige Hörerschaft mit Aufmerksamkeitsdefiziten praktischerweise nur 41 Minuten rund, inklusive einer echten Coverversion.

Ganz gleich ob die Vorlieben im Retro Rock mit Hippie-Klamotten, Psychedelic Rock oder Classic Rock mit Fransenjeans liegen, nackt auf dem Altar des Okkult Rock wird zumindest keiner landen.

(8 Punkte)

Michael Haifl

 

 

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Pic: Joe-Dilworth
(VÖ: 20.05.2022)
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