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GREIL MARCUS – Lipstick Traces

~ 1989/2022 (Ventil-Verlag) ~


Der 1945 in San Francisco geborene Autor, Musikjournalist und Universitätsdozent Greil Marcus dürfte den meisten unter uns zumindest vom Namen her ein Begriff sein – ein Kulturkritiker, der sich speziell mit dem Einfluss der Populärkultur auf die Gesellschaft befasst und für das damals legendäre Fanzine „Who Put The Bomp“ sowie als Rockkritiker beim „Rolling Stone“ und anderen Publikationen arbeitete. Als Klassiker in dieser Hinsicht gilt sein Buch ´Lipstick Traces: A Secret History of the 20th Century´, welches sich mit Dadaismus, Lettrismus, der Situationistischen Internationale und ihren Einfluss auf moderne Gegen- und Untergrundkultur beschäftigt. Bereits 1989 erschienen, findet das Werk nun eine Neuauflage durch den „Ventil-Verlag“.

Marcus behauptet darin, dass Rocksongs von Gruppen wie den SEX PISTOLS in das Massenbewusstsein eindringen und auf subtile Weise das alltägliche Sprechen und Denken beeinflussen. Seine Prämisse lautet, dass Popkultur, ebenso wie radikaler Protest, in der Lage sei, die Geschichte zu verändern. Das Buch ist insofern eine elegant geschriebene Erzählung über die künstlerische Rebellion des 20. Jahrhunderts, von den Kunstbewegungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und den situationistischen Kollektiven im Frankreich der 60er, bis eben hin zu den glorreichen Tagen der SEX PISTOLS.

Er erfasst und vermittelt dabei nicht nur eine einzige Subkultur, sondern gleich einen ganzen Stammbaum an Subkulturen, und verwebt alles mit einem derartigen Geschick, dass sein Buch diesen Rebellionen eine ungemeine Dauerhaftigkeit und Stärke verleiht. Es ist schwer, die Bedeutung von ´Lipstick Traces´ für eine Generation von Punkern und Slackern zu unterschätzen, denn es erfasst unsere Sicht der Moderne auf eine völlig neue Art und Weise und verleiht zudem der Entfremdung einen historischen Kontext.

Marcus eröffnet das Buch dann auch passenderweise mit der These, dass Ende 1976 ein Album mit dem Titel ´Anarchy In The U.K.´ eine wesentliche Transformation der Popmusik bedeutete. Der Autor berichtet dann vom letzten Auftritt der Pistols im Winterland Ballroom, San Francisco am 14. Januar 1978. Das Konzert beendete eine desaströse US-Tournee für die britische Band, was auch gleichzeitig deren Auflösung zur Folge hatte. Für Marcus markierte diese „implosive Performance“, deren Zeuge er war, sowohl den Höhepunkt als auch den Tiefpunkt der SEX PISTOLS: „Sie benutzten den Rock ’n’ Roll als Waffe gegen sich selbst“, stellt er dazu fest.

Ein Blick zurück in die Geschichte führt Marcus ins mittelalterliche Europa und zu den Ketzern, die Subkulturen am Rande der Gesellschaft errichteten. Er untersucht außerdem rebellische Kunstbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, darunter die Dadaisten, deutsche Künstler, die die Mainstream-Kunst während der Weimarer Republik ablehnten. Er beschreibt zudem intellektuelle französische Bewegungen, die in den 50ern und 60ern mit anarchischen Performances und Spielfilmen die moderne Gesellschaft kritisierten – und er vergleicht dabei und verbindet alles mit Punk.

Der Autor zitiert auch den Musiker Paul Westerberg von THE REPLACEMENTS mit den Worten, dass er von den Pistols begeistert war, weil „es offensichtlich war, dass sie nicht wussten, was sie taten, und es ihnen egal war“. Diese Aussage ist der Kerngedanke aller Bewegungen, die Marcus erforscht.

Zwei Jahrzehnte nach seiner ersten Veröffentlichung ist ´Lipstick Traces´ immer noch eine beeindruckende Geschichte über Rebellion und Kunst und bietet vor allem einen Einblick in das, was Punk versprochen hat: eine Flucht aus dem Konsumismus, und zwar deutlich mehr als all die Punker und Slacker es sich jemals hätten vorstellen können.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

Broschur, mit Abb.
496 Seiten
April 2022
30,00 €(D)
ISBN 978-3-95575-156-2