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JETHRO TULL – The Zealot Gene

~ 2022 (InsideOut) – Stil: Folk/Prog Rock ~


Früher wurde sich zwischen fortwährenden Tourneen einfach ein bis zwei Monate Zeit gegönnt, um ein neues Studioalbum zu produzieren. In den Siebzigerjahren entstanden auf diese Weise sogar bisweilen mehrere Alben in einem Jahr. Auch bei Ian Anderson und seinen JETHRO TULL.

Eigentlich war das Thema JETHRO TULL längst Geschichte. Ian Anderson hatte JETHRO TULL 2012 beendet und ad acta gelegt, so dass fortan eine Ian Anderson Band unterwegs war und sein kongenialer Partner unter der Bezeichnung Martin Barre Band. Ian Anderson veröffentlichte zwar 2012 ´Thick As A Brick 2´ und 2014 ´Homo Erraticus´, doch alles unter seinem eigenen Namen.

 

 

Dennoch war die Versuchung in diesen Tagen wohl zu groß. Ian Anderson hatte 2017 ein halbes Album komponiert und musste aufgrund seiner Verpflichtungen die beiden Jahre danach auf Tournee gehen. Die Tournee im Jahr 2020 wurde allerdings aus bekannten Gründen nach einigen Terminen gestrichen. Also begab sich Ian Anderson wieder ins Studio, erneut ohne Martin Barre einzuladen. Denn das Ergebnis sollte überraschenderweise nach zwanzig Jahren die erste echte JETHRO TULL-Scheibe werden, obwohl es natürlich ohne Martin Barre kein echtes JETHRO TULL-Album sein kann. Die Band-Besetzung, mit Gitarrist Joe Parrish-James, Gitarrist Florian Opahle, Schlagzeuger Scott Hammond, Keyboarder/Pianist John O’Hara sowie Bassist David Goodier, rekrutierte sich ohnehin aus der Ian Anderson Band.

 

 

Zwölf Wörter umschreiben ´The Zealot Gene´, zwölf Wörter für zwölf Lieder, denen Ian Anderson im Nachhinein einen Bezug zum Neuen Testament der Bibel gegeben hat. Obwohl er all den Pomp der Geschichten liebt, wollte er weder christliche Idealisten begeistern noch ungläubige Fanatiker abschrecken. Gleichwohl spielt der Eifer der Gegenwart eine Rolle, denn das aus dem Griechischen stammende Wort „Zelot“ bedeutet „der Eiferer“.

Vom eröffnenden ´Mrs. Tibbets´ bis zum abschließenden ´The Fisherman Of Ephesus´ lassen sich Verbindungen zur Gegenwart ziehen. Bei ´Mrs. Tibbets´, der Mutter des Piloten der Enola Gay-Besatzung, die sich für den Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima verantwortlich zeichnete, schwebt das Wort Vergeltung in Bezug zu Sodom und Gomorra in der Luft. Die Gitarren von Florian Opahle, die Keyboards von John O’Hara sind alle neben den Flötentönen gleichberechtigt. Natürlich spielt die Flöte in diesem Classic Rock-Song erwartungsgemäß das Solo, doch die Gitarre darf miteinsteigen.

 

 

´Jacob’s Tales´ behandelt Geschwisterrivalität im Folk- und Country-Sound mit dem verblüffenden Einsatz einer Mundharmonika. Der Titelsong ´The Zealot Gene´ lässt eine schöne Melodie zu den gegensätzlich Stimmung machenden Meinungsäußerungen der Gegenwart sprießen. Während ´Shoshana Sleeping´ lüstern beim Schlaf beobachtet wird, beschreibt der Folk von ´Sad City Sisters´ das ausgelassene, bisweilen zügellose Leben der Jugend in der Nacht.

Die Melodie spielt das Klavier in ´Mine Is The Mountain´ vorneweg, natürlich ausgiebig trällernd und flötend weitergeführt. Dabei entfaltet sich ein erster großer Höhepunkt. Ein weiterer steht mit dem variantenreichen Gesangsvortrag in ´Barren Beth, Wild Desert John´ ins Haus. Dagegen versetzt der Klavier-Groove von ´The Betrayal Of Joshua Kynde´ den Hörer in zum Tanzen anregende Schwingungen, die Akustikgitarre von ´Where Did Saturday Go?´ den Hörer ins Grübeln, wo nach dem Karfreitag und vor dem Ostersonntag unerzählter Weise der Karsamstag geblieben ist. Vielleicht sind es auch die geistigen Lücken nach einem Freitag in der City.

Ebenso dem Folk verschrien haben sich die ´Three Loves, Three´, der puren Leichtigkeit ´In Brief Visitation´. Frei schwebt schließlich ´The Fisherman Of Ephesus´ zum Schlussakkord davon, die unglückliche Geschichte im Gepäck, einer der Überlebenden eines Massenunglücks oder etwa einer Pandemie zu sein.

 

 

Die Kompositionen von ´The Zealot Gene´ sind voller Referenzen und keinen Deut schlechter als die der Alben von JETHRO TULL in den Achtzigerjahren, sie besitzen oft den folkloristischen Ansatz der eigenen Siebzigerjahre und eher kaum einen progressiven. Selbst die musikalische Fortführung von Ian Andersons ´Homo Erraticus´ ist auf dem ersten neuen JETHRO TULL-Originalmaterial seit 23 Jahren offensichtlich, die zu ´Stand Up´ (1969) und ´Benefit´ (1970) nicht weniger.

(8 Punkte)

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