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ANIMAL COLLECTIVE – Time Skiffs

~ 2022 (Domino) – Stil: Experimental Pop/Psychedelia/Indie Rock ~


Im ersten Jahrzehnt des Bestehens von ANIMAL COLLECTIVE wirkte die Band oft wie ein Experiment, um zu sehen, wie rauer Lärm mit Popmelodien koexistieren konnte. Die vier Mitglieder wuchsen allesamt in der Nähe von Baltimore im US-Bundesstaat Maryland auf, lernten sich schon als Teenager kennen und begannen ab 2000 in verschiedenen Kombinationen gemeinsam Musik zu machen.

Eine gewisse Schrägheit war jedoch von Beginn an in ihre Ästhetik eingebaut: jeder war ein Multi-Instrumentalist, und jeder hatte einen Spitznamen und eine Solo-Identität, während der Name „Animal Collective“ nur für diejenigen Veröffentlichungen gewählt wurde, an der zwei oder mehr Mitglieder beteiligt waren. Dave „Avey Tare“ Portner und Noah „Panda Bear“ Lennox waren die beiden Frontmänner und Sänger, wohingegen Gitarrist Josh „Deakin“ Dibb und Elektronikspezialist Brian „Geologist“ Weitz stets eine Nebenrolle bekleideten. Die frühen Werke waren meist aggressiv und abstrakt und zerschmetterten den beängstigenden und surrealen Folk von SYD BARRETT mit der pochenden Elektronik von Industrial, aber sie waren auch in der Lage, sanfte Melodien und engelhafte Harmonien zu produzieren, die eindeutig von den BEACH BOYS inspiriert waren.

Mit ´Merriweather Post Pavilion´ von 2009 fanden sie schließlich zu einer seltenen Balance zwischen Pop und experimentellem Sound, und auf ihrem aktuellen, mittlerweile 11. Studioalbum ´Time Skiffs´, schaltet das Kollektiv noch mal einen weiteren Gang zurück – es ist ein treibendes, weichzeichnendes Werk von kompromissloser Schönheit und wirkt als wollten die Tiere nun endgültig die Wildnis verlassen.

 

 

Schon die beiden Opener ´Dragon Slayer´ und ´Car Keys´ sind bodenständige, harmoniereiche und unmittelbare Indie-Pop-Songs mit packenden Refrains. Die Basslinien sind glatt und die Synthesizer warm und spritzig, und man gewinnt den Eindruck als würden ANIMAL COLLECTIVE nicht mehr ausschließlich die klanglichen Zusammenbrüche von Brian Wilsons am stärksten unter Drogen stehenden ´Smile´-Outtakes emulieren.  Die Arrangements hier haben zudem einen Hauch von Jazz und enthalten, wie einige weitere Stücke auch, ein Xylophon sowie zusätzliche glitzernde Ausstattungen.

Obwohl die Songs allen vier Mitgliedern gutgeschrieben werden, so tauschen sie die Aufgaben des Leadsängers fortwährend, und es gibt auch eine klare Unterscheidung bei den Texten, je nachdem, wer bei dem Song die Führung übernimmt. Avey Tare konzentriert sich oft auf die Mechanik der Wahrnehmung und die Mysterien des Bewusstseins, während Panda Bear eher dazu neigt, über die Verarbeitung innerer emotionaler Konflikte zu singen.

Bei ´Car Keys´ beispielsweise fragt Lennox „Did you ever meet your dark side?“ über arpeggierte Orgelklänge und Samples hinweg, und harmoniert auch beim erhabenen ´Prester John´ ganz hervorragend mit den Klängen von Weitz, einer langsam rollenden Ballade voller wunderschöner Harmonien und widerhallender Percussion, die an die flüssige Atmosphäre von Dub-Reggae erinnert.

Die Art und Weise, wie Melodien plötzlich aus dem Chaos auftauchen, bevor sie wieder von heftigen Schrei- und Percussion-Anfällen verschluckt werden, machten ANIMAL COLLECTIVE vor allem in ihren Anfangstagen zu einem berauschenden Hörerlebnis. Ihr Sound war von einer pochenden, widerspenstigen und unaufhörlich suchenden Energie durchdrungen, und ´Time Skiffs´ klingt im Vergleich dazu manchmal geradezu geradlinig.

Dennoch gelingt es dem Quartett auch hier, sich über konventionelle Rocksong-Strukturen hinauszubewegen, um reine und uneingeschränkte Emotionen auszudrücken – als würde man die Haut, die Muskeln und das Nervensystem vom menschlichen Körper abziehen, und es zeigt sich darunter nur noch die rohe und sengende Hitze.

(8,5 Punkte)


(VÖ: 04.02.2022)

Pic: Hisham Bharoocha