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SHAMBLEMATHS – 2

~ 2021 (Independent/Apollon Records Prog) – Stil: Avant Prog ~


Die Norweger SHAMBLEMATHS erfinden sich abermals aufs Neue. Fünf Jahre nach ihrem Debüt vollzog sich vordergründig ein gehöriger Wandel in der Besetzung. Mastermind und Komponist Simen Å. Ellingsen, im wahren Leben ein Universitätsprofessor der Strömungsmechanik, bildet aktuell mit Ingvald A. Vassbø (KANAAN, JUNO, THE VERGE) den Kern der Gruppe. Ingvald A. Vassbø spielt Schlagzeug und Xylophon, Simen Å. Ellingsen singt und spielt Gitarre, Blockflöte, Sopran-, Alt-, Tenor- und Bariton-Saxophon sowie einige weitere Instrumente. Als Gäste durften sie Bassist Eskild Myrvoll (KANAAN) und Keyboarder PAolo „Ske“ Botta (SKE, YUGEN, NOT A GOOD SIGN) begrüßen.

´2´ ist somit selbstverständlich grundverschieden zu ´1´. Die Gegenwart hört sich düsterer und unerbittlicher an. Sie ist eigensinnig, aber ebenso leichtfüßig unterwegs. SHAMBLEMATHS treten an die Kreuzung, die zum Progressive Rock, Avant Prog, Rock In Opposition als auch Kammerrock führt.

Bedrohlich sowie zugleich fröhlich, die Schwere durch den Double-Bass von Morten A. Nome spürend und eine gewisse Regsamkeit durch das Alt-Saxofon, eröffnet ein kurzes Instrumental namens ´Måneskygge´ das Werk. Das zehnminütige ´Knucklecog´ ist hingegen Retro-Prog in geballter Kraft und schönster Glorie: „Give me your right hand now. Knucklecog! Shoulder to the wheel now. Knucklecog!“ Aus skandinavischer Prog-Tristesse der Häuser ÄNGLAGÅRD und ANEKDOTEN, einigen Drehungen beim Zirkus JETHRO TULL sowie EMERSON LAKE & PALMER entsteht eine unheimliche Gravitationskraft. Der finale Gesangsvortrag im furiosen Abgang stammt obendrein von Gastsängerin Marianne Lønstad.

Es folgt mit ´D.S.C.H. (8th String Quartet, Op 110)´ die Klassik-Umsetzung eines Stückes von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Das Streichquartett „C-Moll Op. 110“ des russischen Komponisten und Pianisten gehört zu den meistgespielten Streichquartetten. SHAMBLEMATHS öffnen in ihrem Vortrag Räume, die von KING CRIMSON bis EMERSON LAKE & PALMER gerne besucht worden wären. Weitaus sakraler wird allerdings die insgesamt achtzehnminütige Umsetzung von ´Lat Kvar Jordisk Skapning Teia´, einer traditionellen Komposition, die dereinst vom englischen Hymnenschreiber Gerald Moultrie übersetzt wurde und ihren Einzug in das norwegische Psalmbuch fand.

Im ersten, ´Lat Kvar Jordisk Skapning Teia Pts. 1-4´ betitelt, von vier Songteilen singt die 14-jährige Anna Gaustad Nistad im wilden Urwald des Progressive Rock, ehe sich die Komposition mit dem Saxophon dezent dem Jazz nähert und in Verbindung mit dem Xylophon und Fagott musikalisch ebenso Siebzigerjahre Progressive Rock zulässt. Der zweite Abschnitt ´Lat Kvar Jordisk Skapning Teia pt. 5´ wird bei aller verströmenden Leichtigkeit vom Sopran- und Tenor-Saxophon bestimmt. Die aufziehende, dunkle skandinavische Prog Rock-Atmosphäre, in die Pia Samset marginal am Mikrofon hinzutritt, bleibt unvermeidlich. Anna Gaustad Nistad singt das Wort „Hosianna“ an und ´Lat Kvar Jordisk Skapning Teia Pts 6-8´ lässt die Wildheit von SHAMBLEMATHS in bislang nicht gekannter Intensität heraus. Zum finalen Abschnitt ´Lat Kvar Jordisk Skapning Teia Pts 9´ singt die sechsjährige Eivor Å. Ellingsen, die Tochter von Simen Å. Ellingsen, in der Coolness einer bisweilen jazzigen Stimmung, und lässt jegliche, zudem unangebrachte Skepsis gegenüber diesen ohnehin recht freizügig angeeigneten Adaptionen schwinden. Denn sie sind geradezu eine Demonstration des großen Könnens von SHAMBLEMATHS.

Ein kurzes Zwischenstück, ´Been And Gone´, in dunkler Aura und mit Gewisper, bereitet auf ´This River´ vor: „This river never hurries. This river never slows. This river cares for no-one, wants no love, needs no love, gives no love, it only flows and flows.“ Simen Å. Ellingsens wunderbarer Gesang erklingt zum Klavier, Marianne Lønstad steigt am Mikrofon mit ein und das Saxophon übernimmt am rauschenden Fluss das Zepter bis das gesamte Instrumentarium anschwillt, um zuletzt wieder dem sinnlichen Gesangsduo den Vortritt zu lassen.

2021 ist die Musik der SHAMBLEMATHS mannigfaltig und äußerst ambitioniert. Neben dem gewohnt monströsen Retro Prog in ´Knucklecog´ überrascht die Umsetzung und Aneignung in feinfühliger und mächtiger, selbstredend progressiver Art und Weise des russischen Streichquartetts ´D.S.C.H. (8th String Quartet, Op 110)´ und des norwegischen Psalm-Hymnus ´Lat Kvar Jordisk Skapning Teia´. Selbst der Abschluss mit ´The River´ könnte schlichtweg ein zärtliches Duett von Simen Å. Ellingsen und Marianne Lønstad sein, würde nicht zwischendurch, angetrieben vom Bariton- und Tenor-Saxophon, die skandinavische Wollust des Progressive Rock hochkochen und überborden wollen. Meisterlich. Uneingeschränkt.

(9,5 Punkte)

https://www.facebook.com/shamblemaths/


(VÖ: 22.10.2021)