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LAZULI – Le Fantastique Envol De Dieter Böhm

~ 2020 (L’abeille Rôde/Just For Kicks Music) – Stil: Rock ~


LAZULI sind LAZULI,
LAZULI bleiben LAZULI.

LAZULI sind schlichtweg das Beste, das dem Connaisseur seit Jahren im Avantgarde Rock aus Frankreich begegnet. Das Quintett besitzt solch eine einmalige Soundästhetik, die sich zwar aufgrund einzelner Umbesetzungen seit ihrer Gründung 1998 über die Dekaden hinweg fortwährend leicht nuanciert gewandelt hat, dennoch unverkennbar sie selbst geblieben ist. Progressivität schreitet ohnehin beständig voran.

Dreh- und Angelpunkt sind seit Anbeginn Sänger Dominique Leonetti und sein Bruder Claude, der das einmalige Instrument einer Léode, diese selbst erschaffene Mischung aus Gitarre, Synthesizer und Säge, zum Jaulen bringt. Doch das Schicksal einer jeden Gruppe ist es, dass sie immer nur an ihrem leuchtenden Meisterwerk gemessen wird. Denn die Anhängerschaft erhofft sich natürlich seit dem Erscheinen von ´En Avant Doute…´ im Jahre 2006 jedes Mal aufs Neue ein wahres Meisterwerk. Zehn Jahre später waren sie mit ´Nos Âmes Saoules´ erneut nah dran, obgleich natürlich jedes einzelne Werk für die Qualität der Franzosen bürgt.

2020 beglücken uns LAZULI mit ´Le Fantastique Envol De Dieter Böhm´, einer metaphorischen Geschichte über die Beziehung der Gruppe zu ihrer Anhängerschaft. ´Le Fantastique Envol De Dieter Böhm´ ist ein Inselalbum: Auf einer imaginären Insel pflanzt nicht Freitag, sondern Dieter Böhm einen Ton in die Erde. Diese Note vermehrt sich und wird zu einer Melodie. Die Melodie wächst heran und wird zu einem Lied. Das Lied wird von den auf der Insel strandenden Meereswellen aufgesogen und weitergetragen. Die Wellen heben das Lied fortan von Küste zu Küste, von Land zu Land über die ganze Erde hinweg. Malerischer kann sich keine Musikgruppe die Verbreitung ihrer Kompositionen vorstellen.

Obwohl das im weiteren Sinne auf den Spuren von GAZPACHOs ´Tick Tock´ wandelnde Konzeptwerk bloß von neun Liedern getragen wird, sind diese in Prolog, vier Akte und einen Epilog eingeteilt. Die Einführung stellt der Opener ´Sol´ dar. In einer fiebrigen Atmosphäre gereicht schon an dieser Stelle der Rhythmus zum Klatschen im Takt. In einer Welt der Percussions atmen die Soli frische Luft und zeigen keinerlei Hemmungen. Der erste Akt besteht hernach aus den Liedern ´Les Chansons Sont Des Bouteilles À La Mer´ und ´Mers Lacrymales´. Erstgenannter Song ist mit einem modernen Beat garniert, derweil das Klavier die Tonfolgen in aller Dramatik zum, über den Wolken springenden Höhepunkt geleitet. Im Solo drehen sich alle Gefühle, winden sich im Seelenschmerz und pressen die Qual heraus.

Les chansons sont des bouteilles à la mer
On les laisse aller, fragiles et légères
Fébrilement on les confie à l’onde
Désespérément, vers le vaste monde

Es brummen die Motoren zu Beginn von ´Mers Lacrymales´. Sogleich tänzelt das Klavier zur elektrischen Gitarre, um das Lied als eindringlichen Rocker aufblühen zu lassen. Dominique Leonetti unterdrückt kein emotionsgeladenes Jaulen, ebenso wenig wie die Gitarre von Gédéric Byar und die Léode seines Bruders ihres.

´Dieter Böhm´ und ´Baume´ sind die zwei Songs des zweiten Aktes und eher von der schlichteren Sorte. Ganz im Klange der 80er Jahre von RUSH beginnt zwar ´Dieter Böhm´, genießt jedoch in den Percussions sein Mitklatschen beständig und ein alleiniges Mitsummen zum Höhepunkt. Ein aufgeplustert-dunkler Zwischenabschnitt überrascht hingegen. Achtzigerjahre-Glöckchen-Soundscapes und das Klavier begleiten Dominique Leonetti in ´Baume´.

´Un Visage Lunaire´ füllt den dritten Akt aus. Es wandelt anfangs und abschließend eindeutig auf den Spuren von MARILLION. Dazwischen zieht nicht nur die elektrifizierte Instrumentierung die Sinfonik in die Höhe, treibt dort schwebend repetitiv umher, ehe sich das Solo seinen emotional-freudig-quälenden Weg bahnt. Der vierte Akt startet mit ´L’envol´, einem Instrumental, das dezent ´Houses Of The Holy´ auf französisches Territorium führt, während ´L’homme Volant´, nicht weniger magisch als ´Les Chansons Sont Des Bouteilles À La Mer´ zu Beginn, den letzten Akt beschließt.

Quelque part au dessus
Emporté par des notes
Il me semble l’avoir vu
Dépourvu de ses bottes

J’ai vu l’homme volant
J’ai vu l’homme canon
Voyager hors du temps
S’évanouir dans le son

Im Epilog ´Dans Les Mains De Dieter´ kommt die Musik in den Händen von Dieter an. Alle Kompositionen sind in einer Flasche vereint, die nun über die Wellen hinweg, über die gesamte Welt hinweg gleitet, in der Hoffnung, neue Besitzer zu finden. Dich und mich.

(8,5 Punkte)

Michael Haifl

 

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Seit wann kenne ich LAZULI? Sicher gehöre ich nicht zu den frühen Entdeckern. Das Frühwerk sollte, wie ich finde, auch wieder zugänglich gemacht werden. Meine Erleuchtung hatte ich 2011 mit ´4603 Battements´. Gleichzeitig erfreute mich NEMOs ´R€volu$ion´. Während letztere aber wieder im Orkus des Vergessens verschwanden, konnte das Quintett aus dem Gard mich dauerhaft überzeugen. Auf ihr Konto gingen einige Ohrgasmen. Die beiden folgenden Alben waren mindestens gleichwertig. Nur ´Saison 8´ erschien mir ein wenig blutleer. Zumindest im Vergleich mit den Vorgängern. Und auch live waren sie sehr überzeugend. Ich konnte sogar meine Frau überzeugen, mit mir diese Band zu besuchen, und sie ist eher keine Konzertbesucherin.

Und heute? Kurz gesagt, ich bin glücklich. Glücklich, Dieter Böhm kennen gelernt zu haben. Glücklich über dieses musikalische Highlight. Glücklich, schon Karten für die nächste Tour zu haben. Warum?

J’ai planté une note sur une île déserte
Une note d’espoir pour un avenir

Diese Insel der Ödnis, manchmal in unserem Herz, darin diese Noten eingepflanzt. Mit jedem Ton wächst die Kraft, die Hoffnung, die Zuversicht. Und, je öfter genossen, desto tiefer diese Gefühle. Weite Ebenen, weiter Horizont. Das blaue Feuer der Liebe unter dem blauen Feuer des Himmels. Tiefes Einatmen, befreite Brust. Jeder Ton, jede Note, am richtigen Ort, begleiten den Hörer auf dieser Reise. Diese Reise durch den wilden Ozean, den man Leben nennt. Von Insel zu Insel, die immer weniger wüst und leer sind. Die sich füllen mit Grün, mit Hoffnung. Die sich füllen mit dem Blau der Harmonie und des Vertrauens. Und in der Ferne der Sehnsucht vereinen sich Himmel und Ozean.

Bei jedem Hören habe ich dieses Bild hier vor Augen, als wäre die Musik genau so geschrieben und gespielt worden, dies Gemälde zu begleiten.

 

Under the Roof of Blue Ionian Weather, painting by Sir Lawrence Alma-Tadema, 1898-1901, Privatsammlung

 

Dafür reichen einfachste Mittel, kaum noch Prog, einfach nur wunderbare Songs. Songs, die schmeicheln, kratzen, schmusen, beißen. Runde Songs, ätherische Songs, dennoch handfest und greifbar. Musik als Triumph des Gefühls, Musik als Euphorie, als Hochgefühl und Glück. Töne der Heilung, Klänge als Medizin.

Ich habe ´Le Fantastique Envol De Dieter Böhm´ jetzt schon in einer Woche öfter gehört als ´Saison 8´ in den zwei Jahren seit Erscheinen. Das ist der Befreiungsschlag nach dem etwas blutleeren Vorgänger. Und es ist ein Nackenschlag für alle, die meinen, progressiver Rock sei gefühllos und kalt und besteht aus aneinandergereihten Tönen und Breaks, gemacht für Mathematiker und Musikstudenten. In seiner bestechenden Simplizität ist das hier die wahre progressive Rockmusik.

Les chansons sont des bouteilles à la mer

Und darum vergebe ich die vollen 10 Punkte.

Mario Wolski