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KIEV STINGL – Teuflisch

~ 1975 / 2017 (Sireena Records / Broken Silence) – Stil: Rock~


Kiev Stingl, bürgerlich Gerd Stingl, wuchs in Hamburg auf und war einer der radikalen deutschen Underground-Poeten der Siebziger, dem aktuell die ihm gebührende Anerkennung zuteilwerden sollte.

Als die Poesie von Charles Bukowski, Tom Clark sowie Douglas Blazek aus den Vereinigten Staaten von Amerika nach Deutschland schwappte und die deutschen Pendants Jörg Fauser, Wolf Wondratschek sowie eben Kiev Stingl den Underground aufwühlten, sah es im musikalischen Umfeld nicht anders aus.

Gitarrist Achim Reichel (RATTLES, WONDERLAND) hatte daher mit Bassist Tissy Thiers (RANDY PIE), Schlagzeuger Dicky Tarrach (RATTLES, WONDERLAND, RANDY PIE), Keyboarder Jean-Jaques Kravetz (FRUMPY, ATLANTIS, Udo Lindenberg) und Stefan Wulff (OUGENWEIDE) an der Mundharmonika bereits eine Gruppe zusammengebracht und wollte mit Kiev Stingl dessen umwerfende Lyrik musikalisch umsetzen. Das Ergebnis war Kiev Stingls Debüt ´Teuflisch´, das 1975 wie Blei in den Plattenregalen stand und erst im Zuge seiner Wiederveröffentlichung in den Jahren des Punk und den Anfängen der Neuen Deutschen Welle erste Erfolge erzielen sollte.

Neben der Musik wurden ebenfalls seine literarischen Ergüsse gedruckt und in vier Gedichtbänden wie ‚Flacker in der Pfote‘ (1979) oder ‚Die besoffene Schlägerei‘ (1984) herausgebracht. Sogar in den Filmen ‚Bartleby‘ (1976), ‚Der Ort der Handlung‘ (1977) und vielen mehr, wirkte Kiev Stingl mit.

Kiev Stingls Musik war 1975 unumwunden zu radikal. ´Teuflisch´ nahm gesanglich die Aggressivität des Punkrock vorweg, verband sie mit der Zerstörungswut, der nonkonformistischen Auslegung von Rockmusik durch VELVET UNDERGROUND, roh und experimentell brodelnd zugleich, und legte infolgedessen obendrein einige Artrock-Adern frei. Zuweilen entsteht eine Melancholie wie sie allein der ostdeutsche Artrock dieser Jahre erwecken konnte.

Zwar ist Kiev Stingl 1975 bereits scheißalt, 30 Jahre alt, dennoch geht es natürlich in den Texten von wahrer Rockmusik allzeit um Bräute, höllische Babys und Rocker. Leider steht der Rocker unberauscht in der Realität wie ein einsamer Indianer der Übermacht von Cowboys gegenüber. Aber wenn sich der Sound nicht gerne in scheinbar ausgedehnten Sessions verliert, FLOYD´sche, elektrische Western- sowie akustische zwölf-saitige Gitarren einfallen und die Klavier- sowie Hammond-Orgeltasten wohlige Schauer versetzen, denn wird hier schlichtweg gemeinsam die Glut aus dem Feuer gerockt. Ein musikalischer Höllenritt, vollkommen teuflisch, wenn erst Stingl an den lila Lippen und Milchkuhtitten seiner Bräute hängt und sie wie Kakao austrinkt. Wenn gar der ewige Schnee zur Verfügung steht und sich beim Öffnen einer Tür sieben nackte Mädchen an Marterpfählen, von sieben Monden bewacht, offenbaren. Zweifellos, Kiev Stingl war weit mehr als Deutschlands Antwort auf Lou Reed, ein Genie, ein teuflisches Genie.

(Klassiker)

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